Aus der Seenot gerettete Person in Wärmefolie gewickelt
Reuters/Yara Nardi
Forschungsallianz

Plan B für EU-Asylsystem

Die Grenzen dicht machen, Abschiebungen forcieren, „Ausschiffungsplattformen“ in Drittländern: Europa sucht nach wie vor nach einer Strategie im Umgang mit Flüchtlingen, Migranten und Migrantinnen. Patentrezept wurde bisher keines gefunden. Eine Forschungsgruppe erarbeitete nun Alternativen zum verbreiteten Ruf nach Abschottung.

„Was nicht funktionieren wird, sind nationale Lösungen", stellt Matthias Lücke im ORF.at-Interview klar. Der Migrationsexperte am Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW) koordiniert die 2016 gestartete europäische Forschungsallianz Mercator Dialogue on Asylum and Migration (MEDAM). Verwundert zeigt sich Lücke etwa über die von Italien und Ungarn angekündigte Antimigrationspartnerschaft: „Salvini (Matteo, Italiens Innenminister, Anm.) will Flüchtlinge loswerden, Orban (Viktor, ungarischer Premier, Anm.) will sie draußen halten. Worüber sie sich dann einigen können, wird man sehen.“

Aber auch andere Ideen, wie etwa der beim EU-Gipfel im Juni geäußerte Plan, Aufnahmezentren in Drittländern („Ausschiffungsplattformen“) zu errichten, hält der Experte für nicht realistisch. Bisher habe sich noch kein Drittland bereiterklärt, ein solches Zentrum zu beherbergen. Auch die EU-Kommission hält diesen Plan inzwischen für kaum umsetzbar. Beim EU-Gipfel ab Mittwoch in Salzburg steht das Thema Migration jedenfalls erneut weit oben auf der Tagesordnung.

Mehr Kompetenzen für EU

Die Forschungsallianz stellt ihr Konzept für ein europäisches Asylsystem abseits großer Politveranstaltungen Stakeholdern aus Politik und Wirtschaft von Budapest über Paris bis Wien vor. Die Kernidee ist, der EU eine wesentlich stärkere Rolle und Verantwortung im Bereich Migration zu geben. Das müsse sich auch im neuen EU-Finanzrahmen niederschlagen.

Insbesondere Asylverfahren in Zentren in Erstaufnahmeländern und Rückführungen bei abgelehnten Asylanträgen sollten bei der EU zentralisiert und so beschleunigt werden. „Dadurch könnten Länder wie Italien und Griechenland entlastet werden“, sagt Lücke. In diesen Zentren solle auch mit EU-Personal schneller entschieden werden, ob jemand schutzbedürftig ist: „Wer nicht schutzbedürftig ist, muss in sein Herkunftsland zurückkehren.“

Kinder vor den Zelten im Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos
APA/AFP/Aris Messinis
Die Lage in den völlig überfüllten griechischen Aufnahmelagern ist dramatisch

Dafür ist aber die Kooperation mit den jeweiligen Herkunftsländern notwendig, die meist wenig von der Rücknahme von Migranten und Migrantinnen halten. Die MEDAM-Partner empfehlen daher, in der Zusammenarbeit mit den wichtigsten Herkunftsländern in Afrika die Rückführung mit Anreizen wie legalen Migrationswegen zu verknüpfen.

Angst vor Kontrollverlust

„Das würde die Anreize für irreguläre Migration aus wirtschaftlichen Motiven reduzieren", ist Lücke überzeugt und würde demnach auch in Europa die Bereitschaft erhöhen, anerkannte Flüchtlinge aufzunehmen. „Wenn weniger Menschen irregulär über die Grenze kommen, halten wir es für denkbar, dass einige Länder in Europa freiwillig anerkannte Flüchtlinge aufnehmen würden, weil sie ein geordnetes Verfahren nach anerkannten europäischen Maßstäben durchlaufen haben.“

MEDAM

Die Forschungsallianz aus Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW), Centre for European Policy Studies (CEPS) und Migration Policy Centre (MPC) erarbeitet seit 2016 mögliche Strategien im Umgang mit Europas ungelösten Migrationsfragen.

Das MEDAM-Konzept baut auf flexible Solidarität – ein Land beteiligt sich dort, wo es politisch möglich ist – statt auf verpflichtende Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen. Das stößt offenbar nicht sofort auf Ablehnung. So seien etwa Vertreter und Vertreterinnen aus immigrationskritischen Ländern wie Polen und Ungarn offener gegenüber legaler Arbeitsmigration gewesen als gegenüber einer von Brüssel vorgeschriebenen Aufnahme von Flüchtlingen, über die sie keine Kontrolle haben.

Es gebe Interesse, so Lücke, manches würde auch in der öffentlichen Diskussion stärker nach außen getragen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel spreche zuletzt öfter darüber, dass man legale Migration aus Afrika mitdenken und erleichtern müsse. Lücke: „Die große Sorge in der Politik ist offenbar der Kontrollverlust, dass plötzlich eine unbegrenzt große Zahl an Menschen kommt und man nicht weiß, wie man mit ihnen umgehen soll.“

Problematischer Status quo

Auch wenn durch das EU-Türkei-Abkommen und die nicht unumstrittene Kooperation mit der libyschen Küstenwache die Zahl der über das Mittelmeer nach Europa kommenden Menschen zurückging, ist die aktuelle Situation für die Forschungsallianz unbefriedigend und nicht nachhaltig. „Bei einem erneuten starken Andrang von Menschen etwa aus Syrien oder einem afrikanischen Land, gäbe es in Europa weiterhin kein System für eine klare Lastenteilung“, sagt Mikkel Barslund vom Centre for European Policy Studies (CEPS) in Brüssel.

Zudem sei die Lage in den Flüchtlingslagern in Libyen, wo viele Menschen von der Küstenwache hingebracht würden, rechtlich problematisch, ergänzt Lücke. Hier sollten Organisationen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) und die UNO-Flüchtlingsorganisation (UNHCR) mit Unterstützung der EU Zugang zu den Lagern bekommen und es den Migrantinnen und Migranten ermöglichen, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren.

Schengen „erstes Opfer“

„Das grundsätzliche Problem ist, dass wir innerhalb des Schengen-Raums in mittlerweile 26 europäischen Staaten die Personenkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben, ohne die Außengrenze gemeinsam zu sichern und ohne ein gemeinsames Asylsystem aufzubauen“, sagt Lücke. „Schengen sehe ich als erstes Opfer, wenn die EU-Mitgliedsstaaten nicht zu einem gemeinsamen Handeln kommen.“ Schon jetzt gibt es mehrfach Personenkontrollen innerhalb des Schengen-Raums, die die EU-Kommission abgeschafft haben will.

Migranten warten an Board der „Diciotti“
Reuters/Antonio Parrinello
Flüchtlingen auf dem Küstenwacheschiff „Diciotti“ war tagelang von Italien verweigert worden, an Land zu gehen

EU Blue Card „blockiert“

In Europa, das unter einem starken Fachkräftemangel leidet, wären besonders ausgebildete Menschen ein weiterer Anreiz, legale Migrationswege zu öffnen. Die MEDAM-Forschungspartner empfehlen daher, die bereits bestehenden Ausbildungspartnerschaften auf nationaler Ebene auch europaweit zu forcieren. Dabei werden jüngere Menschen in potenziellen Herkunftsländern ausgebildet, um damit im eigenen Land aber auch in Europa bessere Chancen zu haben.

Daten und Fakten

Die Migration nach Europa ist rückläufig. Seit Jahresbeginn kamen laut IOM 88.761 Menschen nach Europa. 2017 waren es insgesamt knapp 187.000. 1.565 Menschen, die von Nordafrika nach Europa wollten, gelten heuer als vermisst (2017: 3.116).

Das sei in Europa aber selbst bei den gut ausgebildeten Menschen noch ein sensibles Thema, betont Barslund: „Die Blaue Karte der EU (EU Blue Card, EU-Nachweis für legalen Aufenthalt; Anm.) ist völlig blockiert. Es gibt keinen Fortschritt. Die Kommission braucht das Commitment der Mitgliedsstaaten.“ Diese setzen aber mehr auf nationale Lösungen.

Auch ein von der EU-Kommission gestartetes Projekt, neue Formen von Arbeitsmigration durch die freiwillige Teilnahme von EU-Mitgliedsstaaten zu schaffen, sei gescheitert, sagt Barslund. Dabei habe die Kommission Staaten angeboten, bei Pilotprojekten mit dem Angebot von Arbeitserlaubnissen teilzunehmen. Für einen zweiten Anlauf müsse die Kommission mehr Geld in die Hand nehmen und damit etwa auch Training in afrikanischen Herkunftsländern finanzieren. Bei seiner Rede zur Lage der Union hatte Juncker erst vor wenigen Tagen legale Einwanderungsmöglichkeiten gefordert und die EU-Staaten aufgefordert, Kommissionsvorschläge dazu zu unterstützen.

Entwicklungshilfe nur „kleine Stellschraube“

Fluchtursachen direkt in den potenziellen Herkunftsländern etwa mit Entwicklungshilfe zu bekämpfen, ist eine häufig gestellte Forderung und immer wieder präsentierter Lösungsansatz vieler Politiker und Politikerinnen. Zuletzt forderte etwa Salvini, schnell 500 Mio. Euro in Afrika zu investieren, um damit eine Flucht nach Europa gleich zu unterbinden. Wunder dürfe man sich davon für die Regulierung von Migration aber nicht erwarten, stellt Entwicklungsexperte Rainer Thiele gegenüber ORF.at fest.

Er bezeichnet es mehr als ein „Wunschdenken“: „Entwicklungshilfe ist nur eine kleine Stellschraube im Management von Migration.“ In manchen Fällen könne diese sogar zu Migration beitragen, wenn etwa durch Unterstützung mit besserem Saatgut der Ernteertrag größer und damit das Einkommen höher wird. Das könne in besonders armen Ländern dazu führen, dass sich mehr Menschen auf den Weg zu einem besseren Leben machen, weil sie nun die Reisekosten bezahlen können, erklärt Thiele. Hingegen würden Unterstützungen im Bereich von Bildung, Gesundheit und Wasserversorgung eher dazu führen, dass Menschen in ihren Heimatländern bleiben.

Langfristige Perspektiven fehlen

Der Wissenschaftler sieht hier in der Kooperation mit afrikanischen Ländern für Europa noch Aufholbedarf: „Bei der Zusammenarbeit mit afrikanischen Ländern steht das direkte Migrationsmanagement im Vordergrund wie der Aufbau der Polizei und der Grenzschutz.“ Es werde zu wenig Wert gelegt auf die Verbesserung von sozialen Bedingungen und die Entwicklung von langfristigen Perspektiven.

Dazu zähle etwa, Chancen zu entwickeln für Menschen, die bisher in traditionellen Transitstaaten wie Niger Dienstleistungen für Migrantinnen und Migranten erbracht haben und nun aufgrund des von Europa geforderten verschärften Kampfes gegen irreguläre Migration ohne Beschäftigung dastehen. Thiele: „Diese Menschen kann man nicht als Kriminelle bezeichnen.“