Schüler mit Mundschutz
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CoV im Herbst

Sprenger warnt vor Angstmacherei

Mehr Gelassenheit beim bevorstehenden Schulstart wünscht sich der Gesundheitswissenschaftler und Public-Health-Experte Martin Sprenger. Er befürchtet ein Chaos im Herbst und warnt vor Aktionismus und Angstmacherei der Politik. Die Kollateralschäden in der Gesellschaft würden zu wenig beachtet.

Wenn für mehr als eine Million Schülerinnen und Schüler im September wieder der reguläre Unterricht beginnen soll, wird es nach den Worten von Sprenger „ein Chaos“ geben, „weil im Herbst die jüngeren Kinder die typischen Infekte bekommen“. Das werde dazu führen, dass alle Beteiligten „massiv verunsichert“ werden, sagte Sprenger am Samstag im Ö1-Journal, und ergänzte: „Und das, obwohl Kinder und Jugendliche durch das neue Coronavirus weniger gefährdet sind als durch andere Erkältungsviren.“

Es zeichne sich ab, dass Schülerinnen und Schüler wieder zu „Sündenböcken und Leidtragenden werden“, so Sprenger. Dabei sollte keine Bevölkerungsgruppe überhaupt je zu Sündenböcken gemacht werden. So wie aus einer Pandemie auch „kein Ländermatch“ gemacht werden sollte, wie es ja passiert sei. „Aber anscheinend brauchen wir immer irgendwelche Sündenböcke in Österreich“, sagte Sprenger.

Kindergärten und Volksschulen „normal öffnen“

Der Public-Health-Experte plädierte dafür, Kindergärten und Volksschulen von höheren Schulen getrennt zu betrachten. Erstere sollten „normal öffnen“, für Letztere sei die vorgeschlagene „Ampel gar nicht so schlecht“. Zugleich sollte in die Kommunikation mit Pädagoginnen und Pädagogen sowie Eltern investiert werden, weil die Ängste, die im Bildungsbereich herrschen, „vollkommen irrational und von einer wissensbasierten Wahrnehmung weit entfernt sind“.

Das sei besonders schade, so Sprenger, weil gerade den Schulen in dem pandemischen Geschehen nun eine wichtige Rolle zukomme. Gratisimpfaktionen gegen die Grippe würden in diesem Herbst „Sinn machen“, aber das Chaos in den Schulen werde man damit nicht verhindern. Der Leiter des Bereichs Humanmedizin der Agentur für Ernährungssicherheit (AGES), Franz Allerberger, der in der ZIB2 zum „Mut zur Lücke“ plädiert und gefordert hatte, nicht wegen jeder rinnenden Nase einen Coronavirus-Verdacht auszurufen, liegt für Sprenger richtig.

„Ängste in den Köpfen der Menschen“

Jedoch statt auf Allerberger zu hören, seien vor allem vom Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Frühjahr „vollkommen unnötig diese Ängste eskaliert worden – Stichwort 100.000 Tote. Und diese sind jetzt in den Köpfen vieler Menschen“. Die Politik setze auch jetzt viel zu viel auf Angst, statt die positiven Entwicklungen zu thematisieren, sagte Sprenger. Superspreader-Events würden vermieden, Cluster eingedämmt, Risikogruppen geschützt, Pflege und Behandlung deutlich verbessert. Allein damit würde man gut durch den Winter kommen.

Sprenger ergänzte: „Ich hoffe, die Politik hält Abstand vor unnötigem Aktionismus und unnötiger Angstmacherei. Es wäre Zeit, dass sie damit aufhört.“ Ab Oktober werde die Anzahl der Personen mit viralen Infekten zunehmen, im Jänner/Februar einen Höhepunkt erreichen und im März/April wieder abnehmen – „so wie in jeder Saison“. Ein Teil davon werde heuer das Coronavirus ausmachen. „Wie groß dieser Teil sein wird, ist ungewiss, aber eines ist sicher, zu einer Überforderung der Krankenversorgung wird es mit hundertprozentiger Sicherheit nicht kommen.“

Dashboards „verzerren Wahrnehmung“

Die aktuellen Dashboards, die den Verlauf der Infektionen mit dem Coronavirus anzeigen und zuletzt steigende Zahlen meldeten, würden die Wahrnehmung verzerren, so Sprenger. Sie würden suggerieren, dass es nur noch ein Gesundheitsrisiko geben würde, weil alle anderen sich nicht darauf befinden. „Es wäre ja einmal spannend, Arbeitslosigkeit, Herzinfarkte oder Krebserkrankungen auf Dashboards zu haben.“

Dashboards seien auch in der Darstellung falsch, weil dort positiv Getestete bis vor Kurzem als Erkrankte bezeichnet wurden. Ein positiver Test bedeute ja nur, dass Teile des neuen Coronavirus nachweisbar sind, aber nicht, dass eine Person erkrankt oder infektiös ist. Außerdem sollten diese Zahlen immer in Relation zu den durchgeführten Tests dargestellt werden, forderte Sprenger. Bei 15.000 Tests pro Tag würden immer auch positive Fälle zu finden sein.

Der Public-Health-Experte Martin Sprenger
Privat

Zur Person

Martin Sprenger ist Public-Health-Experte, unterrichtet an zahlreichen Fachhochschulen und Universitäten und war Mitglied der Coronavirus-Taskforce des Gesundheitsministeriums.

Das Problem sei, nicht zu wissen, wie viele davon infektiös sind, weil diese Fälle oft wochenlang positiv bleiben können. Außerdem sei auch die Zahl der nicht gefundenen Fälle unbekannt, so Sprenger. Daher sei nicht die Zahl der positiven Tests entscheidend, sondern die Zahl der Patienten im Krankenhaus und auf Intensivstationen. „Und diese Zahlen sind seit zwölf Wochen auf sehr niedrigem Niveau, obwohl sich die Zahl der positiven Tests vervielfacht hat“, sagte Sprenger. Von 1.600 Todesfällen insgesamt in der letzten Woche in Österreich seien nur zwei auf Covid-19 zurückzuführen – „und das ist nicht wirklich beunruhigend“.

Ungezieltes Testen „reiner Aktionismus“

Der Public-Health-Experte forderte ein gezieltes Testen von symptomatischen Personen und von Kontaktpersonen sowie in gewissen Einrichtungen. Schon zur Zeit der Testung sollten außerdem Alter, Geschlecht, Postleitzahl, Vorerkrankungen, Body-Mass-Index, Raucherstatus und sozioökonomischer Status abgefragt werden, um das gesamte Geschehen besser zu verstehen. „Dass wir das noch immer nicht erfahren, ist traurig“, so Sprenger. Repräsentative Studien hätten wenigstens eine gewisse Aussagekraft.

Ungezieltes Testen ist für Sprenger dagegen „reiner Aktionismus“. Auch Fiebermessen an der Grenze sei Aktionismus, sagte Sprenger und spielte auf die Urlaubsrückkehrerinnen und -rückkehrer an. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) habe zwar empfohlen, viel zu testen, habe aber definitiv Verdachtsfälle gemeint. „Die Pandemie sollte nicht für politische Spiele missbraucht werden“, so der Public-Health-Experte. Denn die positiv getesteten Fälle und Personen im Krankenhaus würden auseinanderlaufen.

Im Frühjahr sind laut Sprenger noch 20 Prozent der positiv Getesteten im Krankenhaus gelandet, jetzt seien es zehnmal weniger; im Frühjahr seien noch fünf Prozent der positiven Fälle verstorben, jetzt seien es weniger als zwei Promille. Viele Menschen würden unnötig in Quarantäne geschickt und vom Arbeiten abgehalten werden, so Sprenger.

Sentinelpraxen und Ampel

Sprenger regte an, sogenannte Sentinelpraxen, die das Auftreten von Infektionen im niedergelassenen Bereich bzw. außerhalb der Krankenhäuser erfassen, weiter auszubauen. Außerdem sollten Diagnosen im niedergelassenen Bereich erfasst werden. Das sei noch „ein blinder Fleck, der eigentlich peinlich ist für ein reiches Land wie Österreich“, so Sprenger.

Die CoV-Ampel als „einfache Darstellung des regionalen Infektionsgeschehens“ findet Sprenger „gut als Teil eines Risikomanagements“. Es müsse aber „unbedingt öffentlich gemacht werden, was die Kriterien sind“, wenn es um die Festlegung der Farben gehe – und zwar wissenschaftlich nachvollziehbar. Keinesfalls dürfe es „eine Geheimkommission geben, die irgendwie intransparent entscheidet, das wäre demokratiepolitisch fatal“. Eine Grundlage wären stattdessen die 15 Qualitätskriterien „Gute Gesundheitsinformation Österreich“, die auf der Seite des Ministeriums zu finden seien, empfahl das einstige Mitglied des Expertenrats im Gesundheitsministerium.

Verlust an gesunden Lebensjahren größer

Der Verlust an gesunden Lebensjahren aufgrund der durch den Lockdown stattgefundenen Unter- und Fehlversorgung von anderen akuten und chronischen Erkrankungen, aber auch aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen sei bedeutend größer als der direkte Schaden durch Covid-19. Für Sprenger sei das „erschreckend“, weil das oberste Ziel der WHO, der EU und auch Österreichs sei, die Zahl der gesunden Lebensjahre zu steigern bzw. deren Verlust zu minimieren.

„Mich wundert es, dass wir so viel Schaden in Kauf nehmen für die Minimierung eines Gesundheitsrisikos“, sagte Sprenger. Die Pandemie habe die soziale und gesundheitliche Ungleichheit enorm erhöht. Sprenger sei enttäuscht, dass das die Grünen nicht mehr thematisieren würden. Und ein zweiter Lockdown, vor dem zuletzt Kanzler Kurz gewarnt hatte, würde die vorhandenen Schäden noch einmal vergrößern. „Er ist auch überhaupt nicht notwendig, und das sollte der Bundeskanzler eigentlich wissen.“