Szene aus der Oper „Entführung aus dem Serail“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
„Entführung aus dem Serail“

Neuenfels und der gedoppelte Mozart

Nimm zwei, zahl eins! Sollte das nicht ein Angebot sein im aktionsbewussten Wien? Der deutsche Regisseur Hans Neuenfels bot nach Stuttgart nun auch Wien seine doppelt gemoppelte Versionierung von Mozarts „deutschem Singspiel“, der „Entführung aus dem Serail“, an. Ein Sprechstück und ein Bühnenstück in einem – samt verdoppeltem Personal – wurde feilgeboten. Die einen begrüßten einen Klassiker in ganz neuer Dynamik, die anderen verdammten diese Form der Werkzurichtung. Dennoch: Im Jahr 2020 kann man offenkundig auch auf der heimischen Opernbühne mit Neuenfels leben.

Im Tempel der schonungslosen Werktreue gibt es doch noch so etwas wie aufklärerische Gnade. Nach vielen Zwischenbuhs und einem Aufschrei ganz am Ende absolvierte die frühere Stuttgarter Inszenierung der „Entführung aus dem Serail“ in der sehr freien Werkbearbeitung durch Neuenfels am Montagabend ihre Wien-Premiere. Buhrufe und Zustimmung hielten sich beinahe harmonisch die Waage, was nicht zu erwarten war.

Neuenfels hatte zwar vieles, aber eben nicht alles getan, um die Wiener zu reizen. So endete die Oper nicht mit dem legendären Janitscharenchor, sondern einem Eduard-Mörike-Gedicht, das Schauspieler Christian Nickel als Bassa Selim alleine deshalb vortragen „wollte“, weil ihm keine Singrolle im Singspiel zukam. Die Besetzung des türkischen Herrschers durch einen Schauspieler war bereits Mozarts Intention; dass man Mörike am Ende vortrug, quittierte ein Mann im Publikum mit den Worten: „Das gehört nicht dazu.“

Szene aus der Oper „Entführung aus dem Serail“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Vieles, aber nicht alles war an diesem Opernabend doppelt zu sehen: Hier die Doppelung Belmonte und Konstanze

Und tatsächlich gehörte vieles nicht dazu in dieser Umsetzung des Mozart-Singspiels. Neuenfels, eigentlich so etwas wie der Germanist im Fach des Regietheaters, weiß um die dramaturgischen Schwächen und die Besetzungsproblematik beim Singspiel: Sänger sind nun einmal nicht geübte Sprechschauspieler, und selten sprechen sie die Sprache des Originals.

Starker Eingriff in die Vorlage

Und so doppelte er alle Rollen bis auf die einzige Sprechrolle in diesem Stück, das ohnedies auch Mozart selbst stark verändert hatte, war ihm doch manches zu wenig aufgeklärt, was ihm sein Librettist als Plot angeboten hatte. Und Neuenfels griff sehr frei in den Text der Vorlage ein und streckte ihn um viele Kniffe und Ideen.

Szene aus der Oper „Entführung aus dem Serail“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Die doppelten Pedrillos (Michael Laurenz und Ludwig Blochberger) – und eine „Blonde“ (Regula Mühlemann), die gerade ein Ei gelegt hat

Neuenfels entschied sich für den Zugang der Spiegelung und des Psychogramms. Die Schauspieler sollten den Handlungsverlauf tragen – der Gesang hatte als Spiegel der Seele und Reflexionskammer zu dienen. Das brachte die Struktur von Mozarts Musik eigentlich sehr schön zu leuchten (Höhepunkt sicher die Arie der Konstanze, „Ach ich liebte, und war so glücklich“) und machte aus der dramaturgischen Schwäche der Vorlage am Ende eine Stärke.

Freilich wäre Neuenfels nicht Neuenfels, säße ihm nicht der Schalk im Nacken. Denn in dieser Konstellation lässt sich auch der schon im frühen Mozart angelegte doppelte Boden wunderbar ausleuchten. Und so arbeitet Neuenfels nicht nur Querbezüge zur „Zauberflöte“ und dem Konzept der Aufklärung von oben heraus, er karikiert alle Ansprüche des aufklärerischen Denkens. „Thesen sind Dung und Dünger, machen jung und jünger“, so der Regisseur in einem Essay zu Mozart am Rande dieser Oper.

Szene aus der Oper „Entführung aus dem Serail“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Ludwig Blochberger als Pedrillo und Christian Nickel als Bassa Selim trugen den schauspielerischen Teil des Abends

Das Singspiel wird zur Screwball-Comedy

Der türkische Herrscher (eigentlich ja nach seiner Flucht aus Spanien selbst ein zum Islam konvertierter „Renegat“), der später vergeben wird, er tritt dazwischen im Tigerkostüm auf. Schauspieler Ludwig Blochberger als Pedrillo ist einer der Motoren, um aus dem sonst so hölzernen Singspiel so etwas wie eine flotte Screwball-Comedy zu machen, die sich freilich zu oft auch an ihren eigenen Witzen begeistert. Verständlich, dass die Puristen dazwischen immer ihren Unmut kundtaten. Wer wollte, konnte dennoch einen neuen Mozart sehen, der kurzweilig war. Und auch die Vorlage als das nahm, was sie ist: keine Kritik am Orientalismus, aber auch kein Pathosstück über die Kraft der Liebe und die Macht des Vergebens.

Szene aus dem Stück „Die Entführung aus dem Serail“
ORF.at
Hans Neuenfels (4. v. l.) und Wien werden vielleicht nie eine enge Herzensbasis aufbauen. Die große Aufregung an diesem Abend blieb aber aus.

Die wunderbare Bühne von Christian Schmidt mit ihrer doppelten Guckkastenstruktur bot Neuenfels vor allem Raum, eine Hommage an die Kraft des Theaters zu inszenieren. Vieles war in diesem Guckkasten zugespitzt sarkastisch, manches aber von großer Poesie. Vielleicht etwas zu viel für das, was man normalerweise an der Oper gewohnt ist.

Der zackige Abbado-Schüler Antonello Manacorda als musikalischer Leiter des Abends präsentierte einen feierlichen, sehr präzisen Mozart, der auch am Schluss nie in den Verdacht der Verkitschung geriet. Das tat der Schönheit dieses Stücks gut, hatte man es doch in manch historischer Interpretation auch schon als Klingel- und Tschinellenwrack erleben müssen.

Strahlender Star des Abends: die US-Sopranistin Lisette Oropesa, die bei ihrem Staatsoperndebüt als Konstanze ausnahmslos alle im Publikum überzeugte. Ein Rufzeichen setzte auch Regula Mühlemann als Blonde.