Beethovens Handschrift zur Sonate Opus 101
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Beethoven-ABC

26 Hammerschläge für ein Halleluja

Die Gestalt von Ludwig van Beethoven ist im Jubiläumsjahr so groß geworden, dass der klare Blick auf ihn längst verstellt ist. Glaubenskämpfe werden um die richtige Beethoven-Spielweise geführt – und das meist mit großer Selbstbezüglichkeit. „Beethoven back to the basics“, das hat sich einer der führenden Beethoven-Interpreten auf dem Klavier, Michael Korstick, vorgenommen – und gemeinsam mit ORF.at das Beethoven-ABC entwickelt, das in 26 Kapiteln verdeutlichen will, warum der Jubilar aus Bonn tatsächlich ein Wendepunkt in der Geschichte der Musik ist.

„0815-Zugänge gibt es zu Beethoven zur Genüge“, sagt der (wie Beethoven) gebürtige Rheinländer Korstick, der sich mit großer Beharrlichkeit die Freilegung ursprünglicher Absichten seines Landsmannes bei seinen Interpretationen vorgenommen hat. Korsticks Einspielungen der Beethoven-Klaviersonaten gelten den einen als Geniestreich (für die es ja auch den Echo-Musikpreis gab). Den anderen sind sie in ihrer puristischen Klarheit eine Nummer zu gewagt. Beethoven könne man so spielen, dass es so schön „wie ein Schaumbad“ sei – „nur hat das halt nix mit Beethoven zu tun“, so Korstick, der mit seinem Kölner Humor auch jene auf der Schaufel hat, die bei Beethoven das auslebten, wie er sagt, was sie bei Rachmaninow nicht zusammenbrächten.

Beethoven-ABC: A wie Ausdruck

A wie Ausdruck

Bei Korstick kann es durchaus vorkommen, dass die berühmte Hammerklaviersonate ungewohnt langsam daherkommt und damit gerade auch in zeitlicher Hinsicht ausufert, weil, wie Korstick sagt, klare Hinweise auf das Tempo über Beethoven und seine Schüler überliefert seien. An anderen Punkten spielt Korstick Beethoven wieder vielen der vermeintlichen Puristen zu schnell. Kurz: Korstick weiß, dass man sich mit seinem Zugang zu einem möglichst puren Beethoven, der natürlich nie die Persönlichkeit des Interpreten ausschalten will, nicht nur Freunde macht.

Michael Korstick am Klavier in seinem Arbeitszimmer
ORF.at
„Man sollte nicht bei Beethoven das verwirklichen wollen, was man bei Rachmaninow nicht schafft.“ Michael Korstick am Klavier in seinem Arbeitszimmer in Schrems vor dem Start der Einspielung des Beethoven-ABC im November 2020.

Umso mehr war er von der Idee eines Beethoven-ABC zum Ende des Jubeljahres (das ja erst jetzt den Geburtstag des Künstlers im Dezember 1770 als Anlass hat) zu begeistern, weil es ein klares Ziel hat: die Stellung Beethovens als Wendepunkt in der Musik begreifbar zu machen. Vor seinen Studenten tut das der gebürtige Bonner, der an so renommierten Institutionen wie der Julliard School of Music in New York ausgebildet wurde, seit einigen Jahren an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. Für ORF.at setzte sich Korstick im rauen November in seinem neuen Wohnort im noch raueren Waldviertel einen Tag lang in seinem Arbeitszimmer ans Klavier, um in 26 Kapiteln und anhand von 26 Begriffen die Ausnahmestellung Beethovens zu erläutern.

Jeden Tag ein Buchstabe

Ab 1. Dezember präsentiert ORF.at jeden Tag einen Buchstaben aus dem Beethoven-ABC. ORF III strahlt in der Sendung „Kultur heute“ Highlights des ABC aus.

Diese „Erläuterungen“, die ab 1. Dezember täglich, Buchstabe für Buchstabe, bis zum 26. Dezember in ORF.at (und ausgewählt auch in der Sendung „Kultur heute“ in ORF III) zu erleben sind, setzen sich aus zwei Elementen zusammen: der puren Musik Beethovens zu Beginn – und der essayistischen Betrachtung der Schlüsselbegriffe. Wenn man so will, setzt das Beethoven-ABC bei einer Grundidee des Musikunterrichts an, anhand von Themen vor allem die Neugierde als Triebfeder der Erkenntnis zu nutzen; und überkommene Bilder über zentrale Stellen des Werkes nochmals zu betrachten. Zitate aus den größten Klavierwerken Beethovens sind Bausteine im Beethoven-ABC, das Adagio aus der Waldsteinsonate ebenso wie die Hammerklaviersonate und Beethovens letzte, 32. Sonate, Op. 111.

Michael Korstick und Gerald Heidegger von ORF.at im Hintergrund beim Dreh zum Beethoven ABC
Li Li
„Jetzt kommt, lasst uns mal loslegen“: Der rastlose Rheinländer Korstick in seinem Arbeitszimmer (im Hintergrund Gerald Heidegger, ORF.at)

Beethoven und die Grenzen des Machbaren

„Beethoven“, sagt Korstick, „operierte an der Grenze des Machbaren seiner Zeit“ – und erinnert dabei nicht nur an die Entwicklung des Hammerklaviers, das der Mann aus Bonn an die Grenze der Belastbarkeit gebracht habe.

Cover von Michael Korsticks Beethoven Einspielungen
Oehms
Korsticks Einspielungen der Klaviersonaten Beethovens gelten mittlerweile als Klassiker

Korstick will weg von den Bildern Beethovens als „Titan“ – aber er will auch weg von den allzu persönlich-gefühligen Zugängen zu diesen Klassikern. Beethoven, wie er es gewollt oder gemeint haben könnte, das ist der Auftrag Korsticks, der seit Jahren in Linz an der Anton Bruckner Privatuni lehrt. Seinen Zugang zu Beethoven hat sich der an der Julliard School of Music Ausgebildete hart und gegen viele Widerstände erarbeitet, weil er sich mit seinem Weg zu Beethoven, wie er im Gespräch sagt, so gut wie mit all seinen Lehrern angelegt habe.

Korstick interessiert sich für die Essenz von Beethovens Musik, wenn man so will. Und bei der Suche nach der Essenz finde man eben nicht nur einen der Hauptvertreter der oft apostrophierten Wiener Klassik, sondern nicht selten den schroffen Rheinländer, der zeit seines Lebens mit den Wienern gefremdelt habe. Der schroffe, hastige, ungeduldige Rheinländer begegne einem auch bei allen rasch notierten Einfällen, die Beethoven in unzählige Skizzenbücher notiert habe.

Beethoven-Schüler wie Karl Czerny sieht Korstick in diesem Rahmen als wichtigen Schlüssel für das Verständnis dessen, wie sich Beethoven manche Umsetzung seines Werkes vorgestellt und erwünscht habe. „Beethoven hat sich ja immer wieder bei internationalen Aufführungen berichten lassen, wie lange eine bestimmte Interpretation gedauert hat, so penibel war er in der Überwachung der Ausdeutung seines Werkes“, erzählt Korstick in einer der Drehpausen zum Beethoven-ABC.

Beethoven-ABC: Michael Korstick

Michael Korstick über seinen persönlichen Zugang zu Beethoven

„Er hat alle Limits gesprengt“

Beethoven habe in seiner Zeit alle Limits gesprengt, sagt Korstick: „Er hat die längsten Stücke geschrieben, die es zu seiner Zeit gegeben hat.“ Schon bei der Klaviersonate Op. 7, die ja noch Ende des 18. Jahrhunderts entstanden sei, habe Beethoven 362 Takte verwendet, womit er alle Grenzen und Konventionen von damals gesprengt habe. Er habe alles immer eine Nummer größer entwickeln, alles weiter treiben wollen.

„Mit Beethoven ist für die Musik einfach ein Grundstein gelegt“, ist sich Korstick mit vielen Experten einig: „Es ist eine Messlatte, die Beethoven da gelegt hat, und jeder Komponist, der nach Beethoven kam, musste als Erstes versuchen, überhaupt über diese Messlatte drüberzukommen, bevor er oder sie etwas anderes machen konnte. Insofern, denke ich, hat Beethoven in seinem Gesamtwerk eine Art verpflichtenden Kanon für die Zukunft hinterlassen.“ Wäre er älter geworden, hätte er uns sicherlich noch mit ganz anderen Wendungen überrascht, so der Pianist.

Die Beethoven-Befragung

„Was wollte uns Beethoven damit sagen?“ In diesem Satz findet Korstick den Schlüssel für seinen Zugang zu Beethoven und legt damit auch die Fährte für die Machart des Beethoven-ABC. Oft genug müsse man sich anhand der verfügbaren Quellen fragen, in welche Richtung der Komponist ein bestimmtes Werk habe treiben wollen. Und erst dann kommt bei ihm der Interpret ins Spiel.

Dacapo mit dem RSO

Ab Ende Dezember wird Michael Korstick gemeinsam mit dem ORF-Radio-Symphonieorchester (RSO) unter Constantin Trinks die Beethoven-Klavierkonzerte im Wiener Radiokulturhaus einspielen.

Anders als beim späteren Franz Liszt, der ja die „poetische Idee“ in den Kern seiner Arbeit gestellt habe, habe man bei Beethoven in der Interpretation weniger Freiheit, weil der eben ein Exaktheitsfanatiker gewesen sei, dem die Umsetzung der Bauart seiner Musik zentralstes Anliegen gewesen sei. So beginnt auch das erste Kapitel im Beethoven-ABC mit dem Aufräumen eines Missverständnisses.

Beim Thema „A wie Ausdruck“ demonstriert Korstick, dass man Beethoven natürlich so spielen könne „wie ein Schaumbad“. Man komme mit diesem Zugang, so seine Andeutung, zwar seinen eigenen Gefühlen näher – aber kaum den ursprünglichen Gedanken Beethovens. „Beethoven wusste sehr genau, was er tat – und wir täten gut daran, uns daran zu halten.“ Aus dem Geist der Exaktheit, ist sich Korstick sicher, könne man das ganze Universum Beethoven entdecken – und sich mit ebenso viel Herzblut hineinfallen lassen. Denn davon erzählt das Beethoven-ABC auch. Denn B steht im Umgang mit Beethoven sicher auch für eines: Begeisterung. Diese wollen wir einen Monat mit unseren Leserinnen und Lesern teilen.