Radikale „Carmen“

Das Unerhörte des Georges Bizet

Georges Bizets „Carmen“ zählt zu jenen Opern, die dank der „Habanera“-Arie weit über den Kreis der Operninteressierten ausstrahlen. Schon die Ouvertüre öffnete sich weit zur Populärkultur, egal ob „die Bären los“ waren oder das drohende Herannahen der Schwiegermutter zu verkünden war. Bizets Oper fiel 1875 bei der Uraufführung durch und wurde erst seit der Premiere in Wien wenig später zu einem Welterfolg. Der Grund: Bizet wagte Unerhörtes. Er steckte die Sozialrevolution seines Jahrhunderts in ein gesungenes Unterhaltungsformat. Das war zumindest den Parisern knapp nach dem deutsch-französischen Krieg zu viel.

Das 19. Jahrhundert ist eine Zeit großer Beschleunigung: Im Bereich der Mobilität bringt die Eisenbahn einen Quantensprung. Und im Bereich des Sozialen kommt die bürgerliche Gesellschaft insofern zu ihrem Recht, als neue Schichten im Gesellschaftssystem auftauchen. Und letztlich nach einem Recht auf Repräsentation, gerade auch in der Kunst schreien. Die Literatur reagierte da, wenig Wunder, am raschesten, und leuchtete gerade mit dem Aufstieg des Romans alle gesellschaftlichen Milieus aus. Die Malerei öffnete sich thematisch langsam, griff auf alte Genreansichten zurück – und thematisierte die Breite des Volkes, wenn es galt, revolutionäre Aufstände ins Bild zu setzen. Und die Musik? Sie war in gewisser Weise die langsamste Gattung. Lange dauerte hier etwa die Romantik, während die Gesellschaft schon im Malstrom rasender Entwicklungen unterwegs waren.

Hinweis

ORF III und ORF.at zeigen am Sonntag ab 20.00 Uhr die Premiere der „Carmen“ in der vieldiskutierten 1999er Regie von Calixto Bieito live aus der Wiener Staatsoper mit Anita Rachvelishvili, Piotr Beczala und Erwin Schrott. Mehr dazu in tv.ORF.at.

Die Oper war zu Mitte des 19. Jahrhunderts so groß wie nie zuvor, aber ihre Darstellungswelt griff auf Schablonen vergangener Zeiten zurück. Die Unterschicht, sie war bestenfalls in Nebenrollen zu sehen. Bis eine findige Kölner Familie nach Paris übersetzte und dort ihre Kinder musikalisch für einen neuen Musikmarkt ausbilden ließ. Der bekannteste Spross dieser Familie hörte auf den Namen Jakob und in Paris schließlich Jacques – und er wird als Jacques Offenbach das Fach der Oper hin zur Massenkultur öffnen.

Offenbach schaffte mit der Durchsetzung der Operette so etwas wie einen „populären Pakt“ (so nannte es die Kulturwissenschaftlerin Ethel Matala de Mazza), indem er die Veränderung der sozialen Welt mit in sein Figurenrepertoire nahm. In seinem Einakter „La Chanson de Fortunio“ leidet ein kleiner Kopist unter denselben Liebesschmerzen wie der große Hof – und als Kopist nimmt er sich eine bekannte Melodie „par coeur“ heran, trällert sie auswendig nach – und sprengt alle Konventionen.

Anita Rachvelishvili als Carmen und Piots Becala als Don Jose
ORF/Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Wie viel Nähe? Wie viel Skandalkraft? Anita Rachvelishvili als Carmen und Piotr Beczala als Don Jose in der Inszenierung von Calixto Bieito.

Eine Kunstform sucht ihre Zeit

Offenbach brachte nicht nur die Erweiterung der Formensprache im Musiktheater; er ließ neue Stände, ja die Breite der sozialen Wirklichkeit auf seine Bühne. Und hatte damit in neuen Häusern Erfolg. Einer, der mit einem Stipendium Offenbachs seinen Aufstieg als Komponist begann, war ein junger Mann aus dem Departement Yvelines in der Nähe von Paris. Sein Name: Alexandre Cesar Leopold Bizet. Wie Offenbach wurde Bizet von seinem Vater auf eine musikalische Karriere getrimmt (ein Umstand, der ja auf die Rolle der Väter seit der Karriere Mozarts oder Beethovens verweist).

1857 gewinnt Bizet mit einer einaktigen Operette, „Le docteur Miracle“, einen von Offenbach gestifteten Preis – und ergatterte sich danach das begehrte „Romstipendium“, das Bizet eine dreijährige Auseinandersetzung mit der italienischen Opera buffa ermöglichte.

Foto von Georges Bizet um 1870
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Georges Bizet auf einer Fotografie aus dem Jahr 1870. Fünf Jahre später stirbt er an den Folgen eines Herzanfalls.

Etablierung in Paris

Nach seiner Zeit in Rom etablierte sich Bizet in den 1860er Jahren in Paris, ein fulminanter Durchbruch auf der Opernbühne blieb ihm trotz großen Arbeitseifers versagt (dabei schuf er 1863 mit den „Pecheurs de Perles“ ein herausragendes Werk, das trotz Lobs von Hector Berlioz immer ein Schattengewächs auf den Opernbühnen blieb). Bekannt war Bizet nicht zuletzt als herausragender Pianist, der sogar vor den Augen von Franz Liszt durch seine fehlerfreien Interpretationen der Werke Liszts bestehen konnte.

„Carmen“ in der Wiener Staatsoper

ORF III zeigt in der Reihe „Wir spielen für Österreich“ am Sonntag die Premiere der Neuinszenierung der „Carmen“ der Wiener Staatsoper. Rainer Keplinger war bei einer der letzten Proben dabei.

Mit seiner vieraktigen „Carmen“ griff Bizet in den 1870er Jahren auf eine Novelle aus der Mitte des Jahrhunderts von Prosper Merimee zurück. Obwohl er sich dem Genre der Opera comique verschrieb, ließ Bizet in diesem Werk ein Sozialpandemonium auf die Bühne treten, das man so noch nicht auf der Bühne gesehen hat: eine Heldin aus der Unterschicht aus dem Gaunermilieu, dazu eine Interpretation der „Liebe“ als Form ständiger Promiskuität – das konnte kein gutes Ende nehmen, weder im Plot noch in der Rezeption beim Publikum in diesem Genre. Als „revolutionärer Bruch“ wird dieses Werk in der Operngeschichte gesehen. Alle Versuche, Bizet zu einem guten Ausgang seiner Oper zu bewegen, scheiterten. Zu sehr hatte er wohl die Dramen eines Giuseppe Verdi im Hinterkopf.

Nothandschrift zur Habanera
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Notenhandschrift

Musik für den „Zauberberg“

Als Bizets Oper 1875 in Wien ihre Premiere erlebte, war der Komponist im Alter von nur 36 Jahren an den Folgen eines Herzanfalls gestorben. Mit der Wiener Bearbeitung sollte die Oper rasch einen Siegeszug auf den Opernbühnen antreten, ja noch eine Rolle in ästhetischen Debatten des späten 19. Jahrhunderts bekommen. Friedrich Nietzsche will mit Bizet seine Abhängigkeit von Richard Wagner therapieren („Der Fall Wagner“), während Thomas Mann im „Zauberberg“ über sein Alter Ego Hans Castorp die „ungeheure sittliche Würde des militärischen Wesens“ im Augenblick, da Don Jose zum Appell gerufen wird, lobt.

Bizet konnte seinen Ruhm tragischerweise nicht mehr erleben. Seine Frau Genevieve wird nach abermaliger Heirat zur großen Salondame im Paris der Dekadenz. Marcel Proust, der mit Bizets Sohn Jacques die Schulbank und die ersten Erfahrungen männlicher Sexualität teilte, wird Bizets Frau ein Denkmal als Duchesse de Guermantes setzen.