Buchcover von Konrad Paul Liessmann mit Corona-Maske
ORF.at/Zsolnay
Neuer Liessmann

Mit Nietzsche gegen den Corona-Blues

Philosophie remixed und Denken als lustvolle Bewegung zu später Stunde. Mit Friedrich Nietzsche und zwölf Versen aus seinem Gedicht „Oh Mensch! Gib Acht!“ bricht Konrad Paul Liessmann auf, um lustvoll durch die Nacht zu geistern. Und siehe da: Er trifft nicht nur Richard Strauss und Gustav Mahler, die sich an Nietzsches Zarathustra abarbeiten. Liessmann trifft auch auf unsere eigene Wehleidigkeit. Nietzsche habe erkannt, so Liessmann, dass das Streben nach Glück eine späte Erfindung sei. Jetzt aber wollten wir uns nur noch wohlfühlen und dauerhaft zufrieden sein, sodass uns neue Aufgaben wie riesenhafte Probleme erschienen.

Bücher lassen sich bekanntlich schwer in aktuellen Zeiten und noch schwerer in Krisen planen. Wo also ist es, das große und gut durchdachte Buch über unsere kollektive Befindlichkeit in Zeiten des Coronavirus? Gott sei Dank gibt es dieses nicht. Und Gott sei Dank muss man sich die Leitgedanken und auch die Reflexionskammern zum gesellschaftlichen und politischen Selbstsein als Mensch der Gegenwart eigenständig erarbeiten, will man nicht in Sozialen Netzwerken der blökend-likenden Gruppenbildung anheimfallen.

Liessmann spricht mit seinem neuen Buch dazu eine lustvolle Einladung aus, die so etwas wie den Kerngedanken des Philosophierens als „fröhliche Wissenschaft“ umreißt: wegdenken von sinnfälligen, aber auch fragwürdigen Texten. Was macht uns als Mensch aus, will Liessmann wissen und beruft sich dabei auf die Lach- und Schießphilosophen des 19. Jahrhunderts, wie Thomas Bernhard vielleicht sagen würde: Nietzsche – und für die selbstbezüglichen Molltonarten den Kopenhagener Sören Kierkegaard.

Auch wenn sich zuletzt der Musikkritiker Alex Ross mit seinem fulminanten Werk „Die Welt nach Wagner“ sehr an Nietzsche abgearbeitet hat, um das Monument Wagner unendlich groß dastehen zu lassen, gelingt Liessmann, ungewollt, eine Rehabilitierung Nietzsches. Die Bedeutung Nietzsches mag er weniger innerhalb der schulphilosophischen Disziplin erkennen, als vielmehr in der Wirkung, die Nietzsche gerade in alle Felder der Kunst hineingetragen hat.

Bild von Konrad Paul Liessmann
Günther Pichlkostner / First Look / picturedesk.com
„Die Schere im Kopf sorgt dafür, dass man es sich auf der richtigen Seite der Geschichte behaglich einrichten kann und sich in seinem intellektuellen Wohlbefinden auch nicht weiter stören lassen muss“

Im Sog des Nietzsche’schen Texts

Selbst die Nietzsche-Hasser wie Mahler konnten sich dem Sog dieses ungewöhnlichen Denkers nicht entziehen – und wer, wie Liessmann, an den vierten Satz von Mahlers dritter Sinfonie denkt, der weiß, wie viel Großes gerade aus der Auseinandersetzung mit einem Reibebaum entstehen kann. „Mahler hat durch diese Komposition nicht nur Friedrich Nietzsches Gedicht weltweit bekannt und berühmt gemacht, er hat durch seine musikalische Deutung auch das Verständnis dieses Nietzsche-Textes in hohem Maße beeinflusst“, schreibt Liessmann zu Beginn seines Buches und hat sich damit den Soundtrack zum Werk als auch die Kapiteleinteilung verordnet: Jeder Abschnitt, jedes Kapitel ist einem Vers aus Nietzsches „Mitternachtslied“ gewidmet – und so hebt alles mit der Fragestellung und dem Ausruf „Ach Mensch!“ an.

Seite aus Nietzsches Zarathustra
dtv
Der erste Teil des „anderen Tanzliedes“ am Ende des „Zarathustras“

Denn das Ach und Weh bei Nietzsche signalisiert der auf Zufriedenheit und auf Ausgleich ausgerichteten Gegenwart zweierlei. Dass das Leben selten dem guten Ende entgegenstrebe und dass der Begriff von Glück und Glücklichsein philosophiegeschichtlich ein sehr junges Projekt sei.

„Das missratenste Tier, aber das interessanteste“

Der Mensch ist der, der er werden kann, entnimmt Liessmann (immer wieder auch mit Rückgriff auf seinen geistigen Mentor Günter Anders) einen Zentralgedanken aus Nietzsches „Zarathustra“. Der Mensch sei „zwar das missratenste Tier (…), aber auch das interessanteste“, heißt es ja an anderer Stelle im Werk. Liessmann schlägt immer wieder die Brücke von Nietzsche in die Gegenwart der „Enhancement- und Selbstoptimierungsgesellschaft“. Diese habe nämlich bei Nietzsche das Grundmodell angelegt, nämlich, dass sich der Mensch immer neu entwerfen, immer neu denken und erfinden müsse. Der Mensch sei nichts Gegebenes, sondern müsse als Aufgabe begriffen werden: „In welche Richtung dieses Sich-selbst-Schaffen allerdings gehen soll, ist Gegenstand heftiger philosophischer, technologischer und ideologischer Kontroversen.“

Auf den Selbstentwurf des Menschen schaut Liessmann über die Nachtseite des Menschen, über jenen Bereich, in dem das Verdrängte lauert – wo der Mensch aber auch, vermittels der Lust und Entgrenzung, eine Ahnung von seiner Ewigkeit erhält. Überhaupt erinnert Liessmann an die Grundzüge der Erkenntnis aller Studienfächer der Human- und Kulturwissenschaften: dass das Verständnis vom Leben und vom Menschen nur dahin gehen kann, Widersprüche auszuhalten.

Nietzsches „letzte Menschen“ und die Gegenwart

Gerade mit diesem Umstand könne aber die gebildete Kultur der Gegenwart nicht mehr so gut umgehen, darf man aus Liessmanns spielerisch geführter Gedankenwelt deduzieren. Nietzsches Raunen vom Übermenschen erinnert Liessmann zunächst an das „hämische Konzept“ zum letzten Menschen. Und diese letzten Menschen, das sind irgendwie wir in der Gegenwart. „Die letzten Menschen verlassen die Gegenden, wo es hart war zu leben, und suchen die ‚Wärme‘ der anderen Menschen“, buchstabiert Liessmann Nietzsche weiter: „Krankwerden gilt ihnen als sündhaft, ebenso wie die Bekundung von Misstrauen.“

Offene Seite aus dem Tanzlied, Teil 2
dtv
„Doch alle Lust will Ewigkeit –, will tiefe Ewigkeit – “. Und dann wäre da noch der Punkt „Zwölf“, auch bei Liessmann

Die „Mindfulness“ der Gegenwart scheint Liessmann ein Grauen. „Man geht achtsam einher“, diesen Satz Nietzsches sieht Liessmann nicht als Auftrag, sondern als Warnung. Jeder wolle in der Gegenwart das Gleiche, jeder fühle das Gleiche, und wer anders fühlen sollte, „geht freiwillig ins Irrenhaus“. Jede Abweichung von der Norm erscheine der neuen Mittelklassengesellschaft, in der alle Schichtgrenzen ausgelöscht seien, als therapiebedürftig. Überall dominiere der Aspekt des Angenehmen und des Nützlichen, ergo, so schließt Liessmann: auch der Mittelmäßigkeit.

Buchhinweis

Buchcover Liessmann
Zsolnay

Konrad Paul Liessmann: Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen. Zsolnay, 318 Seiten, 26,00 Euro. Erscheint am 19. April 2021.

Wissen heißt noch nicht Erkenntnis

Ganz ohne Smartphone habe Nietzsche vorausgesagt, dass die Demokratisierung des Wissens auch Missverständnisse mit sich bringe. Wissen, so könnte man den Philosophen Liessmann deuten, heißt für die Wikipedia-Kultur noch lange nicht Erkenntnis.

Alles sei mittlerweile der Optimierung und des „gesunden Lebens“ untergeordnet: „Die Lüste selbst unterliegen seit geraumer Zeit dem Regime der Gesundheit, das trifft das Rauchen ebenso wie den Sex, das Essen ebenso wie das Trinken und es trifft auch die rar gewordenen geistigen Genüsse: nur keine allzu radikalen Gedanken, nur keine inkorrekten Formulierungen, nur keine Sprache, (…) nur keine Spitze, die irgendjemandem wehtun, nur keine Hypothese, die in falsche Hände geraten könnte.“

„Auf der richtigen Seite der Geschichte“

Der letzte Mensch, er scheue den Konflikt und auch den Schmerz. Er nimmt, so zitiert Liessmann Nietzsche, „ein wenig Gift ab und zu“, um „angenehm träumen“ zu können. „‚Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln“, schreibt Nietzsche mit einiger Prophetie zur Bobo-Kultur der Gegenwart. „Die Schere im Kopf sorgt dafür, dass man es sich auf der richtigen Seite der Geschichte behaglich einrichten kann und sich in seinem intellektuellen Wohlbefinden auch nicht weiter stören lassen muss“, ergänzt Liessmann.

Liessmann wird mit diesen Sätzen, sicher auch gewollt, Kritik und wohl kalkulierte Missverständnisse ernten. Was gut ist, denn es kann und wird eine Diskussion begünstigen, die die Gegenwart zu ihrem Selbstverständnis, „jenseits von Gut und Böse“, auch jenseits von links und rechts benötigt. Liessmann führt von diesem Anfangsgedanken spielerisch durch die Nacht. Wer schlaflos ist mit Nietzsche und Kierkegaard, so darf man nach dieser vergnüglich klugen wie spielerischen Reise schließen, hat zwar ungesund gelebt – aber er/sie hat die Grenzen seiner eigenen Welt wieder einmal lustvoll vermessen. Und auch gegen den Kater hat unsere Gesellschaft Zuckerkügelchen mit dem Hauch von Gegengift in, wie es heißt, hoher Potenz.