Kalush Orchestra aus der Ukraine jubelt
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Dank Publikumswertung

Ukraine gewinnt den Song Contest

Es ist dann doch der Favoritensieg geworden: Das Kalush Orchestra aus der Ukraine entschied am Samstagabend mit „Stefania“ den Song Contest für sich. Zu verdanken hat das die Band den TV-Zuseherinnen und -Zusehern. Denn die internationalen Expertenjurys hatten sie „nur“ auf den vierten Platz gereiht. Zu diesem Zeitpunkt lag Sam Ryder aus Großbritannien noch voran – er wurde schließlich Zweiter vor der Spanierin Chanel.

Von 468 möglichen Publikumspunkten aus den 40 Teilnehmerländern erhielt das Kalush Orchestra 439. Insgesamt hatte die ukrainische Band schließlich 631 Punkte auf dem Konto und damit einen großen Vorsprung auf Ryder (466) und Spanien (459). Die Schwedin Cornelia Jacobson landete mit 438 Punkten auf Rang vier. Für Serbien erreichte die Sängerin Konstrakta mit dem fünften Platz einen Überraschungserfolg.

Dass das Kalush Orchestra überhaupt in Turin antreten konnte, ist eine Geschichte mit vielen Wendungen. Eigentlich hatte die Sängerin Alina Pash die ukrainische Vorausscheidung gewonnen. Sie stolperte allerdings über eine Jahre zurückliegende Reise auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim und legte ihren Startplatz zurück. Am 22. Februar verkündete die Band, die ursprünglich als reines Rap-Trio ihre Karriere begonnen hatte, das Angebot anzunehmen und statt der Sängerin die Ukraine in Turin zu vertreten. Zwei Tage später griff Russland die Ukraine an.

12 Ukraine: Kalush Orchestra, „Stefania“

Politdebatte ante portas

Schon im Vorfeld war die Ukraine als klarer Favorit gehandelt worden. Die Mischung aus Rap und Folklore ließ schnell Hitpotenzial vermuten. Dass der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine Rolle spielen würde, war von Anfang an klar – und Sympathiepunkte waren absehbar. Allerdings kann das Land ohnehin auf eine unglaubliche Song-Contest-Bilanz verweisen. Es ist der dritte Sieg bei 17 Antreten.

Dass nun dennoch eine weitere, tendenziell mühsame Debatte über Politik beim Song Contest folgen wird, ist absehbar. Offen ist freilich auch die Frage, wo der Bewerb im nächsten Jahr stattfindet. Ob es die Lage in der Ukraine dann zulässt, ihn etwa in Kiew auszutragen, wird sich erst in den nächsten Monaten weisen.

Gratulation von Selenskyj

Oleh Psiuk, Leadsänger des Kalush Orchestra, zeigte sich nach seinem Triumph zuversichtlich, dass der Bewerb in seinem Heimatland stattfinden wird: „Ich bin sicher, dass die Ukraine nächstes Jahr Europa in einer neuen, einigen und glücklichen Ukraine begrüßen wird.“ Er sei mit seiner Band in Turin, „um zu beweisen, dass die ukrainische Kultur lebendig ist und wunderschön“.

Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj meldete sich nach dem Sieg zu Wort. „Unser Mut beeindruckt die Welt, unsere Musik erobert Europa! Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision!“, so Selenskyj auf Telegram.

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Kalush Orchestra aus der Ukraine
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Ukraine: Kalush Orchestra mit „Stefania“
Sam Ryder aus Großbritannien
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Großbritannien: Sam Ryder mit „Space Man“
Sängerin Chanel aus Spanien
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Spanien: Chanel mit „SloMo“
Cornelia Jakobs aus Schweden
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Schweden: Cornelia Jakobs mit „Hold Me Closer“
Konstrakta aus Serbien
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Serbien: Konstrakta mit „In corpore sano“
Mamhmood & Blanco aus Italien
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Italien: Mahmood & Blanco mit „Brividi“
Zdob si Zdub & Advahov Brothers aus Moldawien
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Moldawien: Zdob si Zdub & Fratii Advahov mit „Trenuletul“
Amanda Georgiadi Tenfjord aus Griechenland
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Griechenland: Amanda Georgiadi Tenfjord mit „Die Together“
Maro aus Portugal
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Portugal: Maro mit „Saudade, saudade“
Subwoolfer aus Norwegen
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Norwegen: Subwoolfer mit „Give That Wolf a Banana“
S10 aus den Niederlanden
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Niederlande: S10 mit „De diepte“
Ochman aus Polen
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Polen: Ochman mit „River“
Stefan aus Estland
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Estland: Stefan mit „Hope“
Monika Liu aus Litauen
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Litauen: Monika Liu mit „Sentimentai“
Sheldon Riley aus Australien
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Australien: Sheldon Riley mit „Not the Same“
Nadir Rustamli aus Aserbaidschan
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Aserbaidschan: Nadir Rustamli mit „Fade to Black“
Marius Bear aus der Schweiz
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Schweiz: Marius Bear mit „Boys Do Cry“
WRS aus Rumänien
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Rumänien: WRS mit „Llamame“
Jeremie Makiese aus Belgien
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Belgien: Jeremie Makiese mit „Miss You“
Rosa Linn aus Armenien
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Armenien: Rosa Linn mit „Snap“
The Rasmus aus Finnland
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Finnland: The Rasmus mit „Jezebel“
We Are Domi aus Tschechien
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Tschechien: We Are Domi mit „Lights Off“
Systur aus Island
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Island: Systur mit „Med haekkandi sol“
Alvan & Ahez aus Frankreich
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Frankreich: Alvan & Ahez mit „Fulenn“
Malik Harris aus Deutschland
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Deutschland: Malik Harris mit „Rockstars“

Britische Wiederauferstehung

Das Comeback des Jahres schaffte Sam Ryder für Großbritannien: Gerade mal zwei Top-Fünf-Platzierungen hatte man in den 2000er Jahren geschafft – und auch die sind schon lange her. Zuletzt hatte man eher den Eindruck, die Briten pfeifen mit dem Brexit nicht nur auf die EU, sondern auch gleich auf den Song Contest. Mit einem neuen Team suchte man neue Wege und fand mit Ryder, der über seine TikTok-Videos mit Coverversionen einen kometenhaften Aufstieg schaffte, den idealen Kandidaten. Auch wenn der „Space Man“ sehr viele Anleihen etwa bei Queen nimmt, scheint der zweite Platz – und der erste in der Jurywertung – nur ein weiterer Meilenstein in der aufstrebenden Karriere des 33-Jährigen zu sein.

22 Großbritannien: Sam Ryder, „Space Man“

Auch Spanien beendet Miserenserie

Nach sechs Jahren mit Platzierungen jenseits der 20 in Folge wollte es auch Spanien wieder einmal wissen. Zwar war das Konzept einer sehr sparsam bekleideten Frau, die von Tanzpersonal umringt ein Latino-Dance-Feuerwerk zündet, schon in den vergangenen Jahren sehr oft im Einsatz, die Musicalsängerin Chanel brachte aber eine High-End-Version davon auf die Bühne. Dafür gab es schließlich Platz drei.

10 Spanien: Chanel, „SloMo“

Noch weiter vorne hatte man zuletzt Schweden erwartet. In den vergangenen Jahren waren es zumeist Männer, die zwar mit ausgeklügelten Popnummern am Start waren, dann aber recht blutleer und mechanisch wirkten. Cornelia Jacobs hingegen machte auf der Bühne eine ganz andere Figur, es menschelte plötzlich. Dem Zufall überließ man trotzdem wenig: Barfuß aufzutreten steht in der Traditionen von etlichen Gewinnerliedern – und die Sängerin tat das auch. „Hold Me Closer“ ist textlich nur eine recht leichte Adaption von Johnny Logans Siegertitel 1987, „Hold me Now“. Geworden ist es schließlich Platz vier.

20 Schweden: Cornelia Jakobs, „Hold Me Closer“

Überraschung aus Serbien

Tiefgründig und dennoch eingängig lieferte Serbien einen der interessantesten Beiträge ab, was mit dem überraschenden fünften Platz belohnt wurde. Die gelernte Architektin Konstrakta setzte den sperrigen Text zu Gesundheit, Krankheit und Künstlersozialversicherung mit Waschschüssel und Handtuchwachlern in Szene, für die notwendige Eingängigkeit sorgte der Mitklatscheffekt im Refrain.

24 Serbien: Konstrakta, „In corpore sano“

Gastgeber auf Platz sechs

Vier emotional dargebotenen Balladen waren im Vorfeld das Potenzial für die Top Ten oder sogar mehr eingeräumt worden. Den Gastgebern Italien war sogar zugetraut worden, den Titel zu verteidigen, schließlich hatten sich im traditionell hochkarätig besetzten Sanremo-Festival die Stars Mahmood und Blanco durchgesetzt – mit „Brividi“, einem Duett über Beziehungsprobleme. Die textreiche Nummer mit dem markanten Refrain landete schließlich auf Platz sechs.

Ganz und gar untypisch und ungriechisch präsentierte Amanda Georgiadi Tenfjord mit „Die Together“ ein modern angehauchte Ballade. Die Frage, ob der gemeinsame Tod eine wirklich gute Lösung für eine toxische Beziehung ist, wurde vor allem von den Jurys offenbar nicht mitgedacht, die reihenweise für Griechenland Punkte vergaben. Damit wurde es der musikalisch verdiente, aber textlich bedenkliche achte Platz.

Portugal weit über den Erwartungen

In eine ähnlich Kerbe schlug Ochman mit „River“ für Polen. Seine dramatische Ballade kippte da und dort ins Opernhafte, erinnerte stellenweise stark an „Arcadia“, den Siegersong von 2019 von Duncan Laurence, und wurde mit einer gewittrigen Bühnenshow verstärkt. Ochman landete – etwas unter den Erwartungen – auf Platz zwölf.

Wesentlich nüchterner präsentierte sich die niederländische Rapperin S10, die in „De diepte“ ihre Erfahrungen mit Depressionen verarbeitete. Der aufs Wesentliche reduzierte Auftritt vermittelte offenbar genug Intimität, um den Song auf Platz elf zu hieven.
Eher überraschend konnte die portugiesische Sängerin Maro und ihr Weltschmerzklatschkreis für „Saudade, saudade“ Punkte sammeln – vor allem bei den Jurys, nach deren Wertung sie sogar auf Platz fünf lag. Insgesamt wurde es Rang neun.

Gute Laune aus Moldawien und Norwegen

Gute-Laune-Songs hatten es schwer: Die moldawische Band Zdob si Zdub & Fratii Advahov präsentierte eine leicht verrockte Polkavariante mit „Trenuletul“. Der Song über eine Zugsfahrt von Chisinau nach Bukarest mit der derzeit politisch recht brisanten Frage, ob Moldawien und Rumänien nicht sehr ähnlich seien, räumte bei den Zuschauern ab. Mit 239 Punkten landeten sie dort auf Platz zwei. Mit recht wenigen Jurypukten bedeutete das Rang sieben.

Ebenfalls von den Experten sträflich vernachlässigt wurde das norwegische Duo Subwoolfer. Mit „Give That Wolf a Banana“ gelang ein Song, der sich nicht darauf reduzieren lässt, einfach nur eine ulkige Spaßnummer zu sein. Professionell wurde das „Masked Singer“-Konzept mit Ironie umgesetzt, der Song hätte aber auch ohne dieses als Discofeger funktioniert. Platz zehn ist daher eher am unteren Ende der Erwartungen.

Auch Radiotauglichkeit hilft kaum

Eröffnet hatte den Abend die Band We are Domi aus Tschechien. Mit „Lights Off“, einem der radiotauglicheren Songs des Bewerbs, wurde es aber nur Platz 22. Ebenfalls Ohrwurmqualität hatte „Snap“ der Armenierin Rosa Linn mit dem vielleicht aufwendigsten Bühnenauftritt des Abends: Sie trällerte ihren Song in einem vollständig mit überdimensionalen weißen Postings zutapezierten Zimmer – und fand erst am Ende den Weg auf die offene Bühne. Sie wurde 20.

The Rasmus aus Finnland hielten als einziger Finalact die Fahnen des Rock hoch. Die bekannte, wenn auch ein wenig in Jahre gekommene Band landete mit Luftballonshow, Rockposen und ihrem Song „Jezebel“ immerhin auf Platz 21. Viele Assoziationen rief „Miss You“ von Jeremie Makiese aus Belgien hervor. Die einen fühlten sich an einen James-Bond-Summer erinnert, andere an „Dirty Diana“ von Michael Jackson und wieder andere an Justin Timberlake. Ganz zünden wollte der Song aber nicht – daher Platz 19.

Publikumsnuller für die Schweiz

Für den Schweizer Marius Baer war wohl schon der Einzug ins Finale ein Erfolg. Seine im Louis-Amstrong-Stil vorgetragene Ballade über abstürzende Flugzeuge und austrocknende Flüsse, „Boys Do Cry“, landete schließlich auf Platz 18 – und erhielt als einziger Song keine Publikumspunkte. Ebenfalls überraschend hatte sich Litauen mit Monika Liu qualifiziert, ihr chansonartig dahinwackelnder Song „Sentimentai“ brachte ihr den schmeichelhaften 14. Platz ein.

Nichts mit den Spitzenplätzen zu tun hatten erwartungsgemäß die Country- und Westernsongs. Die isländischen Schwestern Systur schunkelten und grinsten sich zur ihrem erstaunlich ereignislosen Song auf Platz 23. Und der Este Stefan landete mit einem Italowestern-Soundtrack „Hope“ auf Rang 13 – und damit überraschend weit vorne.

Aserbaidschan und Australien nur für Jurys interessant

Aserbaidschan, das mit Kaufsongs aus schwedischen Popmanufakturen früher durchaus punkten konnte, machte dem Songtitel „Fade to Black“ alle Ehre, landete dank einiger Juryspitzenwertungen auf Platz 16: Sänger Nadir Rustamli fiel vor allem durch ein gebrülltes „The Wedda“ in seiner Ballade über Verlust und den Einfluss des Wetters darauf auf. Überdramatisiert präsentierte sich Dauergast Australien. Mit Glitzerburka und allerlei Schmuck- und Kleidungströdel behangen klagte Sheldon Riley in „Not the Same“ sein Leid über Diskriminierung und Coming-out. Der Klassiker unter den Song-Contest-Themen lässt sich offenbar nur mehr sehr dick aufgetragen platzieren – und das reichte nur für Rang 15 – ebenfalls praktisch ohne Publikumspunkte.

Wieder Debakel für Deutschland

Apropos Klassiker. Erstaunlich wenig Song-Contest-Klischees waren heuer im Finale zu verzeichnen. Ethno und Folklore waren eher dünn gesäht. Für Rumänien selbst versuchte sich der gelernte Tänzer WSR als flotter Latino-Sänger. Mit dem Anrufaufruf „Llamame“ wurde es Platz 18.

In die vorhandene Ethnolücke schlüpfte Frankreich. Das bretonische Frauentrio Ahez und der Elektromusiker Alvan waren in Vorfeld hoch gehandelt worden, die Kombination aus bretonischem Gesang und Trance mit Soundknacksern ging aber nicht auf, es wurde Vorletzter.

Noch verkorkster verlief der Song Contest auch einmal mehr für Deutschland: Malik Harris landete mit „Rockstars“ ohne Jurypunkte und mit sechs Publikumspunkten auf dem letzten Platz – dabei waren Song und Auftritt – vor allem im Vergleich zu vorangegangenen deutschen Desastern – diesmal durchaus passabel. Warum der Ohrwurm in Turin nicht zündete, ist eher rätselhaft.

Für Aufregung sorgte am Abend noch ein Statement der EBU, wonach es beim zweiten Halbfinale am Donnerstag „Unregelmäßigkeiten“ bei einigen Juryvotings gegeben hätte. Über Details wurde aber nichts bekannt.