Leuchtender Tempel in dunkler Nacht
heid, ORF.at/Montage
Oper kontra Big Data

Mit Mahler gegen das „New Dark Age“

Was tun mit einer Welt, die nur noch von Wunsch- oder Angstprojektionen getrieben ist und zwangsläufig mit dem Realen fremdelt, wie sie im Kultwerk „The New Dark Age“ durch James Bridle beschrieben wurde? An der Staatsoper wagt man als erste Neuproduktion der Spielzeit 2022/23 ein Experiment. Regisseur Calixto Bieito montiert aus zwei Liederzyklen von Gustav Mahler das zusammen, was dem Erneuerer der Opernaufführung, Mahler selbst, nie gelungen war. Eine Oper, die eigentlich ein Essay zur Zeit wird. Und ein Erlebnis für Auge und Ohr sein soll.

Nicht nur für die Geschichte der Wiener Staatsoper gilt Mahler als der zentrale Erneuerer des Opernbetriebes. Doch eine Oper hat der große Symphoniker selbst nie geschrieben. Und wie bei seinem Lehrer Anton Bruckner sind die Pläne für eine Oper nie über die Idee oder das Projektstadium hinausgekommen. Im Schatten der „Tannhäuser“-Begeisterung tauschten sich die damals noch nicht einmal 20-jährigen Musiker Hugo Wolf und Mahler über die Idee einer Märchenoper aus. Als Mahler seinen Jugendfreund mit einer Art Libretto zum „Rübezahl“ überrumpelte, war es um die Opernbegeisterung und Freundschaft der beiden geschehen.

Ganz zu Beginn von Mahlers Karriere steht das „Klagende Lied“, ein Projekt, mit dem Mahler im Rennen um den Beethoven-Preis der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde antreten wollte. Es ist zugleich auch ein Projekt, das von einem überbordenden Sendungsbewusstsein in der Orchesterbesetzung berichtet – und das von der Jury im Vorfeld für den Wettbewerb abgelehnt wurde. Ein Fernorchester hatte Mahler für das von ihm erdachte Raumklangerlebnis aufgestellt, das weit vom Orchestergraben musizieren und fortissimo spielen, aber im Raum nur piano erlebt werden sollte. Kein Wunder, dass man den damals mittellosen Studenten Mahler für größenwahnsinnig hielt.

„Von der Liebe Tod“: Ein Liederzyklus wird zur Oper

Ein Märchen, in dem alles einstürzt

Mahlers „Märchen-Kantate“ basiert auf zwei Erzählungen, dem „Klagenden Lied“ von Ludwig Bechstein und dem Lied vom „Singenden Knochen“ der Brüder Grimm. Es ist der Spielmann mit dem „singenden Knochen“, einer weißen Flöte, die einen Brudermord im Moment einer Hochzeit aufdeckt: „Eine stolze Königin“ will jenen Mann ehelichen, der ihr eine bestimmte rote Blume zu bringen vermag. Doch der sanfte Finder wird vom brutalen Bruder in der Nacht unter einem Weidenbaum erdolcht. Das Aufdecken dieser Geschichte sprengt die vermeintlich glückliche Feier und bringt den gesamten Palast zum Einstürzen.

Hinweis

Das Wiener Mahler-Projekt „Von der Liebe Tod“ hat am Donnerstag, 29.9., Premiere und wird um 19.00 Uhr auch von Ö1 live übertragen.

Neben Mahlers frühem musikalischem Fingerzeig in diesem Stück, der ihn als Verehrer der Arbeiten Wagners und Kenner der Werke Bruckners ausweist, hat dieses frühe Werk offenbar Potenzial für eine szenische wie bildliche Umsetzung. Der spanische Regisseur Bieito griff jedenfalls den Wunsch des Mahler-Verehrers an der Spitze im Haus am Ring auf, er möchte das Publikum mit Mahler in die Welt der Gegenwart mitnehmen. Statt Verführung zum Märchen und zur Fantasie ortet Bieito so etwas wie einen Hang, sich nur noch den Projektionen der digitalen Welt auszuliefern, denen er mit den Mitteln der Bühnenarbeit gegensteuern will.

Big Data als tückische Scheinwelt

„Mahler ist seit früher Jugend Teil meines Lebens, ich empfinde ihn als Zeitgenossen“, erzählte er im Vorfeld: Ein Theaterabend, der das frühe „Klagende Lied“ mit den späten „Kindertotenliedern“ verbinde, stünde für ihn unter dem Motto: „Die Zukunft ist jetzt.“

„Unsere Gegenwart hat der Computerwissenschaftler und Künstler James Bridle als ‚New Dark Age‘ bezeichnet und gezeigt“, so Bieito, „wie sie einem digitalen Big-Data-Overkill entgegentaumelt.“ Bridle beschreibt in seinem Buch, das seit 2020 auch auf Deutsch vorliegt (Verlag C. H. Beck), die Abhängigkeit der Menschen von der digitalen Steuerung, die sie für die Realität untauglich macht, ja sogar an die Realität mit tödlichen Folgen ausliefert. Bei einem Auftritt auf der TED-Konferenz 2018 erinnerte Bridle mit ein paar Beispielen, wie viele Millionen Videos allein zum Öffnen von Überraschungseiern auf YouTube stehen, die offenbar enorme Öffentlichkeiten in ihren Bann, aber vom realen Leben abzögen.

Das Gefangensein in dieser virtuellen Welt möchte Regisseur Bieito in die Märchenwelt des „Klagenden Liedes“ übertragen, die Mahler am Ende ja selbst zum Einsturz bringt. Die danach eingesetzten „Kindertotenlieder“, die bei der Abfassung Mahlers Frau Alma in Empörung versetzten – hatte sie Mahler im Jahr 1905 ja komponiert, als dessen eigene Töchter gerade vor dem Fenster im Garten spielten –, will Bieito wiederum heranziehen, um nach der Katastrophe der Notwendigkeit der Trauer und der stillen Reflexion eine Chance zu geben: „Mich bewegt bei der Arbeit die Erinnerung an die Geschichten und Märchen unserer Kindheit und die Frage, welche Welt wir unseren Kindern hinterlassen.“

Die Oper als Mahler-Paradoxon

Es sei ein Paradox, sagt Staatsopernchef Bogdan Roscic, dass der „bis in die innerste Faser seines Daseins vom Theater durchpulste Gustav Mahler, der einen entscheidenden Teil seines Lebens höchst produktiv mit und in Opernhäusern verbracht hatte, keine Oper geschrieben“ habe. „Das klagende Lied“ nennt Mahler sein „Opus eins“, weil er sich darin, wie er sagt, „als Mahler gefunden“ habe. Die erste Fassung dieses von Mahler letztlich als „Märchen für den Konzertsaal“ geschaffenen Werks bezeichnete man 1880 „fälschlich“, wie Mahler-Deuter Kurt Blaukopf schreibt, als Oper.

Erst 1901 entschließt sich Mahler, dann schon Direktor der Wiener Hofoper und mit der Mission, den Opernbetrieb der Zeit komplett auf den Kopf zu stellen, „Das klagende Lied“ als „Konzert der 500“ im Wiener Musikvereinssaal aufführen zu lassen. „Gegen den Zusammensturz des Schlosses in dieser Ballade“, schreibt ein Rezensent zu Mahlers Klangwelt, „ist die ‚Götterdämmerung‘ ein Lokalereignis.“

Raumklang als Erlebnis

Für Breitkopf erkennt man am Beispiel des „Klagenden Liedes“ beim frühen Mahler immer noch die Nähe zu seinen Vorbildern – aber entscheidend sei, was man an diesem Werk erleben könne: „die Geburt des symphonischen Musizierens aus dem Lied, die kristallklare Artikulation orchestralen Kontrapunkts und die Organisation eines im echten Sinne des Wortes ‚unerhörten‘ Raumklanges.“

Diesen Raumklang in der Staatsoper zu organisieren liegt im Rahmen dieses Projekts beim jungen Schweizer Shootingstar Lorenzo Viotti, der im Alter von 32 Jahren an der Staatsoper mit dieser Produktion sein Debüt geben wird. Ebenso ein Hausdebüt wird Florian Boesch mit diesem Mahler-Projekt feiern, das sicherlich die ungewöhnlichste Premiere zum Start einer Saison ist. Aber, so verspricht Hausherr Roscic, es werde ein hundertminütiges Abenteuer, das gerade neue Schichten anzusprechen vermag, weil es assoziativ über die Sprache des bekannten Opernrepertoires hinausgeht.