One Love Band auf Arm von Fußballspieler
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„WM der Schande“

Fußball als Arena des Politischen

Spätestens mit der Entscheidung des Weltfußballverbands (FIFA), Spieler mit Gelben Karten zu bestrafen, wenn sie mit einem „One Love“-Schriftzug auf der Kapitänsbinde auflaufen, ist wieder von einer „WM der Schande“ in Katar die Rede. Denn die Länder, die das geplant hatten, ruderten zurück. Umgekehrt setzten die Spieler des Iran ein lautes Zeichen gegen ihr Regime, indem sie die Nationalhymne nicht mitsangen. Einmal mehr stellt sich die Frage: Kann Sport unpolitisch sein?

Politische Debatten sind schon immer Begleitmusik bei sportlichen Großveranstaltungen, gerade in den vergangenen Jahren war die Auswahl der Gastgeber häufig Auslöser von Kontroversen, auch weil die internationalen Sportverbände zuletzt recht häufig bei der Auswahl umstrittene Entscheidungen getroffen hatten.

So war die Menschenrechtslage in China Dauerthema bei den Olympischen Winterspielen im heurigen Sommer in Peking – genauso wie sie das schon bei den Sommerspielen 2008 in der chinesischen Hauptstadt war. Auch die Winterspiele 2014 im russischen Sotschi wurden deshalb kritisiert, auch da gab es erste Boykottaufrufe.

Teure Großevents fürs Image

Allerdings: In westlichen Staaten stößt die Austragung solcher Großveranstaltungen vermehrt auf Kritik, zumeist aus finanziellen oder ökologischen Überlegungen. Umgekehrt nehmen Staaten, die aus westlicher Sicht Werte wie Menschenrechte und Ökologie weniger wichtig nehmen, auch offenbar viel lieber Geld in die Hand, um mit entsprechenden Events zu versuchen, ihr Image aufzupolieren.

Die FIFA schaffte es aber, gleich zweimal in Folge, höflich formuliert, kein besonders ausgeprägtes Fingerspitzengefühl bei der Auswahl zu zeigen. Vor vier Jahren fand die Weltmeisterschaft in Russland statt, nun in Katar. Die Kritik im Vorfeld, von den Menschenrechtsverletzungen im Land über die katastrophalen Arbeitsbedingungen beim Stadionbau bis hin zu den ökologischen Sünden, ist bekannt.

Dänische Fußballer tragen T-Shirt mit Menschenrechtsbotschaft, 2021
IMAGO/ZUMA Wire/Kim Price
Der dänischen Mannschaft wurden T-Shirts mit Slogans für Menschenrechte schon im Vorfeld untersagt

FIFA trägt Streit aufs Spielfeld

Für den größten Wirbel sorgte nun die Entscheidung der FIFA, die Pläne von England, Deutschland, den Niederlanden, Wales, Dänemark, Belgien, Frankreich und der Schweiz mit Verweis auf die Ausrüstungsregeln zu durchkreuzen, indem ihre Kapitäne mit Gelben Karten bestraft werden, wenn sie mit einer „One Love“-Armschleife mit Regenbogenfarben auflaufen. Der Streit wurde von der FIFA damit unmittelbar auf das Spielfeld getragen. Die Länder machten daraufhin einen Rückzieher und akzeptierten die von der FIFA bereitgestellte Schleife mit dem Slogan „No Discrimination“ („keine Diskriminierung“).

Man stehe zum „One Love“-Slogan, der sich auch gegen Homophobie richtet, hieß es mehr oder weniger ähnlich aus den Nationalmannschaften. Aber Priorität habe immer noch das Ergebnis am Platz – und das wolle man nicht mit einem gelb-vorbelasteten Kapitän aufs Spiel setzen. Man sei „massiv von der FIFA bedroht“ worden, hieß es etwa vom Deutschen Fußballbund (DFB).

Europäer knicken ein, Iraner beweisen Mut

Praktisch in allen Ländern folgte ein Aufschrei in den sozialen Netzwerken und den Medien, dass sich die nationalen Verbände dem Druck der FIFA – und vermutlich auch des Gastgebers Katar – beugen würden. „Wir schämen uns für euch!“, schrieb die deutsche „Bild“-Zeitung, die „WM der Schande“, gleichzeitig Titel einer TV-Doku, wurde zum geflügelten Wort. Auch einige Sponsoren nutzten die Gunst der Stunde, sei es aus tatsächlicher Überzeugung oder auch aus Kalkül fürs eigene Image, und ließen ausrichten, man überdenke die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Verbänden.

DFB-Spieler halten sich Mund zu
AP/Ebrahim Noroozi
Deutschland nutzte das Mannschaftsfoto vor dem Match gegen Japan für eine Protestgeste

Dem Handeln der Europäer wurde nämlich am Montag eine Geste gegenübergestellt, für die es weit mehr Mut braucht: Die iranische Mannschaft schwieg zum Auftakt ihres Matches gegen England beim Abspielen ihrer Hymne demonstrativ – als Protest gegen das Regime im Heimatland, das die Aufstände im Land mit Gewalt zu unterdrücken versucht. Welche Folgen das für die Spieler und ihre Familien haben wird, kann man nur erahnen.

Iranische Spieler während Hymne
APA/AFP/Fadel Senna
Demonstratives Schweigen der iranischen Mannschaft während des Abspielens ihrer Hymne im Match gegen England

Historisch oft Spielball der Weltpolitik

Dass die FIFA, aber auch andere Verbände wie das Internationale Olympische Komitee (IOC), prinzipiell ein Interesse haben müssen, Politik im Sport hintanzuhalten, kann aus historischen Gründen vielleicht erklärt werden. In der Vergangenheit wurden sportliche Großveranstaltungen schon oft Spielball der Weltpolitik, Beispiele dafür gibt es viele: Die Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin versuchte Nazi-Deutschland für Propagandazwecke zu instrumentalisieren.

Im Kalten Krieg wiederum boykottierten der Ostblock und der Westen jeweils gegenseitig die Sommerspiele in Moskau (1980) und Los Angeles (1984). Schon 1976 in Montreal wiederum hatten 16 afrikanische Länder die Spiele ausgelassen, weil Neuseeland zuvor den internationalen Sportbann gegen den Apartheid-Staat Südafrika gebrochen hatte.

Absatzmärkte als Priorität

Logischerweise werden globale Wettkämpfe nur dann ihrem Ruf gerecht, wenn sie tatsächlich auch global beschickt werden – sonst verlieren sie ihren Anspruch und damit auch ihr Renommee. Und nicht zu vergessen: Den Verbänden kosten sie vor allem auch Absatzmärkte und damit finanzielle Einnahmen. Dass FIFA, UEFA, IOC und andere in der Kommerzialisierung des Sports in vorderster Reihe stehen, und dass auch Korruption – siehe entsprechende Enthüllungen und Prozesse – allgegenwärtig ist, scheint da nicht nur ein Nebenaspekt zu sein.

Dass Russland wegen seines Angriffskriegs auf die Ukraine von der WM ausgeschlossen wurde, kann als Ausnahme für die FIFA wohl gerade noch verkraftet werden. Bei Olympia in Peking waren russische Athletinnen und Athleten dabei, auch wenn sie nicht unter ihrer eigenen Flagge teilnehmen durften.

WM: Rückzug bei „One Love“-Armbinden

Das mehrfarbige Stückchen Stoff für die Oberarme von Deutschlands Torhüter Manuel Neuer und anderen WM-Teilnehmern sorgt in Katar weiter für Diskussionen. Die Verbände gaben nun dem Druck durch die FIFA nach. Der deutsche Lebensmittelkonzern REWE beendete daraufhin die Zusammenarbeit mit dem DFB.

Sport prägt nationale Identität

Umgekehrt ist die Forderung, dass der Sport völlig frei von Politik sein muss, wohl ähnlich naiv wie die gleichlautende Parole beim Song Contest. Spätestens dann, wenn es um Wettbewerbe geht, in denen Nationalstaaten gegeneinander antreten, ist Politik auf irgendeine Weise im Spiel. Die im Alltag am häufigsten beobachtbare Form des Patriotismus findet man in Stadien, an Pistenrändern und in anderen Sportstätten. Sport, das ist unbestritten, trägt seinen Teil dazu bei, die Identität eines Landes zu formen. Und Fußball spielt als Massensport in diesem Prozess des „nation building“, wie es in der Politikwissenschaft heißt, vor allem in Europa, Lateinamerika und Afrika eine große Rolle.

Auch wenn Österreich eher eine „Skination“ ist, der Sieg über Deutschland 1978 in Cordoba prägte über Jahrzehnte das Verhältnis zum Nachbarland. In Deutschland selbst war es das „Wunder von Bern“, der überraschende Gewinn der Fußball-WM in der Schweiz 1954, mit dem der dunkle Schleier der Vergangenheit durch ein positives, kollektives Erlebnis zum Teil abgeschüttelt wurde. Der Sieg habe, so schreibt der Kulturtheoretiker Claus Theweleit, vor allem für die Jungen das „Tor zur Welt“ und zu „anderen Wirklichkeiten“ aufgestoßen.

Sport als politisches Mittel

Ähnliche Erzählungen gibt es in vielen Ländern, zum Teil versuchten Länder auch gezielt, mit Sport diesen Prozess zu fördern, wenn auch nicht immer mit Fußball, siehe etwa die ehemalige Sowjetunion und andere Staaten des ehemaligen Ostblocks, die sich eher andere Sportarten dafür aussuchten. In die Geschichte ging etwa das „Blutspiel von Melbourne“ ein, das Aufeinandertreffen Ungarns und der Sowjetunion beim Wasserballturnier der Olympischen Sommerspiele 1956 in Melbourne – kurz nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands durch die Sowjets. Ungarn gewann das brutal geführte Spiel, der Sieg wurde ein Symbol für den Widerstand gegen die Sowjetunion.

Sport als Spiegel der Gesellschaft

Doch bei den jetzt verhandelten Kontroversen geht es gar nicht um Nationalstaaten, sondern um Haltungen und Werte. Und auch das ist nicht neu: Ein Auftreten gegen Rassismus und Homophobie haben sich ja selbst nationale wie internationale Fußballverbände schon seit Jahren auf die Fahnen geheftet, mit welchen Mittel man dabei vorgeht, war allerdings auch schon bei der pandemiebedingt auf 2021 verschobenen Europameisterschaft ein Thema.

Und vor allem: Auch Fußball wird nicht unter einem Glassturz gespielt, der sämtliche Fragen, wie und nach welchen Regeln und Werten eine Gesellschaft lebt, abschirmen kann. Und damit stellen sich am Rasen, im Stadion und auch an den TV-Geräten im weitesten Sinne auch politische Fragen. Wenn Spieler eine Nation und damit Gesellschaft repräsentieren: Was ist dann zu sehen und was nicht – und wie werden diese Fragen verhandelt. Fußball als kulturelles Massenphänomen verleiht diesen Fragen noch viel stärkere Brisanz.

Kolonialismus und Migration neu aufgerollt

Die Hautfarbe von Spielern war in Ländern mit kolonialer Vergangenheit früher ein Thema als in anderen Ländern – und brachte auch den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit wieder aufs Tapet. In anderen Ländern stellte sich die Frage später, als die – zumeist – Söhne von Migranten und Geflüchten in den Mannschaften auftauchten und plötzlich auch das Thema Migration und Integration, und freilich auch Rassimus, vom Sport eine neue Debattendimension erhielt.

Dass nicht sein kann, was offenbar nicht sein darf, manifestiert sich im Umstand, dass es bis heute kaum – männliche – aktive Fußballprofis gibt, die sich als homosexuell geoutet haben. Der Wille, (Regenbogen-)Flagge zu zeigen, mag ehrenhafte Symbolpolitik sein. Mit dem streng muslimischen WM-Gastgeber Katar und der FIFA hat man zudem Gegenüber gefunden, die dankbare Feindbilder abgeben. Für Veränderungen im gesamten System Fußball wird es aber vielleicht mehr brauchen als eine Armbinde mit Regenbogenherz.