Als Österreich nicht mehr war

Kein Österreich – davon können nur noch wenige Österreicherinnen und Österreicher erzählen. Es ist 80 Jahre her, dass es verschwand und zur „Ostmark“ wurde. Vor dem „Anschluss“, der Annexion des Landes durch Hitler-Deutschland, spürte die Wienerin Frau H., heute 89 Jahre alt, noch wenig von Antisemitismus. Sie war damals ein Kind, gerade acht Jahre alt. Was beim „Anschluss“ geschah, weiß sie aber noch genau.
H., pensionierte Ärztin, wurde 1929 als Tochter einer jüdischen Mutter und eines nicht jüdischen Vaters in Wien geboren. Als Zeitzeugin geht sie heute in Schulen und erzählt von ihren Erlebnissen nach dem Einmarsch, in der Nazi-Zeit; von ihren Jahren in einem Versteck in Wien, von den letzten Kriegsmonaten in einem dunklen Keller; von der Depression und der Angst; und vom Antisemitismus in Österreich, der sich bis heute hält.

„Sie hatten Scheuklappen“

Ihre Erlebnisse erzählt auch H.s Altersgenossin Helga Feldner den Schülerinnen und Schülern. Auch Feldner wurde nach dem Krieg Ärztin in Wien. Hass habe sie vor der Nazi-Zeit als Kind nicht wahrgenommen. „Meine Eltern werden schon etwas bemerkt haben. Die haben ja auch Scheuklappen getragen. Etwas, das man nicht wissen will, das schiebt man weg.“ Dass Herkunft, Blut oder Religion eine Rolle spielen könnten, erfuhr Feldner später. Wenn ich Ihnen sage, was für eine durchmischte Familie wir waren.“ Der Vater sei jüdischer Arzt gewesen, die Mutter evangelisch. „Sie hat, bis sie 18 Jahre alt war, nicht gewusst, dass ihre Mutter eine getaufte Jüdin war.“
Es habe einen christlichen Zweig in der Familie gegeben - „Mischehen“, getaufte Juden - „es war eigentlich nicht wesentlich“. Die Eltern hätten nicht wahrnehmen wollen, „was sich in Deutschland schon abgespielt hat“, sagt Feldner heute. „Mein Vater war auch völlig blind.“ Doch im Herbst 1938 wurde er abgeholt - und nach Buchenwald deportiert.

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Übermacht auf dem Obersalzberg

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Der „Anschluss“ kommt 1938 ideologisch keineswegs aus dem Nichts, die Debatte über ein gemeinsames Staatsgebiet reicht tief in das 19. Jahrhundert zurück. In der Wiener Politik ist man nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend einig: Österreich soll dem Deutschen Reich angegliedert werden. Am 12. November 1918 rufen Christdemokraten, Sozialdemokraten und Deutschnationale die Republik Deutschösterreich aus – mit dem erklärten Ziel einer späteren Vereinigung mit Deutschland.
Österreich gilt Teilen der Bevölkerung als nicht lebensfähig. Der Hungerwinter 1918/19 intensiviert das Bestreben nach einem Aufgehen im Staatenverbund. „Vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts ist klar, dass die Deutschsprachigen in der Habsburgermonarchie natürlich als Deutsche galten“, so Dirk Rupnow, der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. „Es gab einen ganzen Katalog von Zuschreibungen, was das spezifisch Österreichische ausmacht. Und trotzdem ist aber auch immer klar: Die sind deutsch.“ Ein Zusammenschluss der beiden Länder kommt für die Siegermächte aber nicht infrage.

Die Nazis im Untergrund

Das Blatt wendet sich, als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht erobern. Anfang der 1930er Jahre wenden sich Christlichsoziale und Sozialdemokraten vom Gedanken eines „Anschlusses“ ab.  Die Christlichsozialen unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und später seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg haben sich, wie der Historiker Florian Wenninger vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien sagt, „gut in diesem Kleinstaatsregime eingerichtet. Sie haben natürlich kein Interesse daran, aus ihren Posten verdrängt zu werden.“ Es sei aber ein „großes Missverständnis“ zu glauben, es habe in der Ersten Republik drei Lager gegeben, nämlich ein sozialdemokratisches, ein katholisches und ein deutschnationales.  „Tatsächlich haben sich Katholiken und Deutschnationale so weit angenähert, dass hier von einem sehr zersplitterten, sehr zerklüfteten, aber doch von einem bürgerlichen Milieu auszugehen ist. Dieses bürgerliche Milieu wird ideologisch von zwei Klammern zusammengehalten: von Antimarximus und vom Antisemitismus“, so Wenninger.
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Die Agitation der Nazis setzt 1933 mit voller Wucht ein: Anfang Juni überziehen sie das Land mit einer Terrorwelle, am 19. Juni erfolgt das Verbot der NSDAP.  Im Untergrund sind sie aber weiter höchst aktiv. Im Juli 1934 dringen „Illegale“ ins Wiener Kanzleramt ein und erschießen Dollfuß. Auch das Scheitern dieses Putschversuchs (Juliputsch) hindert die Nationalsozialisten nicht daran, die österreichische Regierung schrittweise zu unterwandern. Shoshana Duizend-Jensen, Historikerin am Wiener Stadt- und Landesarchiv, sagt, die Strukturen seien bereits vor dem „Anschluss“ bis auf die niedrigste Ebene organsiert gewesen: „Es gab ja in jedem der Wiener Bezirke eine Organisation, die sich mit der Propaganda beschäftigt hat, auch schon in der Illegalität. Es gab Flugzettel, Wochensprüche der NSDAP, Druckwerke, Pressemeldung, Indoktrination von Personen, Rekrutierungen von Menschen“, so Duizend-Jensen. „Es gab immense Propaganda vonseiten Deutschlands. Es war perfekt organisiert.“ Angesichts der Aktenbestände in österreichischen Archiven zweifle man nicht daran, dass der „Anschluss“ über Nacht möglich war. Schuschnigg, nach Dollfuß‘ Tod im Kanzleramt, setzte den autoritären Kurs seines Vorgängers fort. Das Parlament war bereits seit März 1933 ausgeschaltet, die Diktatur errichtet, die Sozialdemokratie im blutigen Bürgerkrieg im Februar 1934 besiegt.

Schicksal besiegelt

„Ich denke, dass die entscheidenden Fehler schon lange vor Februar oder März 1938 passiert sind“, so Wenninger: „Sie haben einerseits damit zu tun, dass das Regime Dollfuß/Schuschnigg keinen Ausgleich mit anderen Anti-Nazis im Land gesucht hat, sondern im Gegenteil: 1933 und 1934 hat es gerade die Kräfte liquidiert, die bis dahin die verlässlichsten Antifaschisten im Land waren, nämlich die Sozialdemokraten und auch die Kommunisten.“ Gleichzeitig habe man eine folgenschwere außenpolitische Fehlentscheidung getroffen, sich nämlich den falschen, den faschistischen Partnern anzunähern.
Deutschland steigert den Druck auf Wien stetig, etwa durch Wirtschaftssanktionen. Franz von Papen, deutscher Botschafter in Wien, drängt auf ein Treffen Schuschniggs mit Hitler. Der Kanzler gibt nach einigem Zögern nach und arbeitet mit dem österreichischen Nationalsozialisten und Hitler-Gewährsmann Arthur Seyß-Inquart eine Liste mit Zugeständnissen aus, die er Hitler vorlegen will. Ohne Schuschniggs Wissen spielt Seyß-Inquart die Liste Hitler zu. Das Treffen im bayrischen Berchtesgaden markiert den Höhepunkt der deutschen Einschüchterungspolitik: Am 12. Februar 1938 trifft Schuschnigg auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden auf Hitlers „Berghof“, seinem Landhaus, ein. Dort stellt der NS-Diktator Schuschnigg unter Drohungen ein erstes Ultimatum: Er müsse ein Dokument mit Forderungen unterzeichnen, das deutlich über Schuschniggs geplante Zugeständnisse hinausgeht. Andernfalls werde die Wehrmacht in Österreich einmarschieren. Forderungen sind unter anderem die Aufhebung des Verbots der österreichischen Nationalsozialisten und deren volle Agitationsfreiheit sowie eine verstärkte Einbindung in die Regierung. Schuschnigg beugt sich - im Glauben, so die Selbstständigkeit Österreichs erhalten zu können.

Propaganda in der Nazi-„Wochenschau“

In einer vom Rundfunk und auf öffentlichen Plätzen übertragenen dramatischen Rede versucht der glücklose Schuschnigg am 24. Februar die Österreicher von der Eigenständigkeit zu überzeugen. „Bis in den Tod: Rot-Weiß-Rot!“, lautet seine Losung. Wenige Tage später kündigt er in Innsbruck für den 13. März eine Volksbefragung „für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ an. Hitler wertet die Ankündigung als Kampfansage und lässt seine Vertrauensleute in der österreichischen Regierung Schuschnigg ein Ultimatum zur Verschiebung der Volksbefragung stellen. Als die Frist verstreicht, unterzeichnet Hitler eine Weisung „betreffend Unternehmen Otto“: „Ich beabsichtige, wenn andere Mittel nicht zum Ziel führen, mit bewaffneten Kräften in Österreich einzurücken.“ Am 11. März teilt Schuschnigg Bundespräsident Wilhelm Miklas mit, dass er nachgeben und die Volksbefragung absagen werde. Doch schon eine halbe Stunde später folgt das nächste Ultimatum aus Berlin: Schuschnigg soll zurücktreten und Seyß-Inquart als Bundeskanzler Platz machen. Nach weiteren Drohungen willigt Schuschnigg ein, die Volksabstimmung abzusagen. Am Abend erzwingt Hitler schließlich Schuschniggs Rücktritt.
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Ein Antidemokrat gegen die Nazis

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Es ist Freitag, der 11. März, 19.47 Uhr, als Schuschnigg im Bundeskanzleramt vor das Mikrofon tritt und die Worte spricht, für die er in die Geschichte eingeht: „Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in diesen ernsten Stunden nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, dass der Einmarsch durchgeführt wird, ohne Widerstand sich zurückzuziehen“, verkündet der Kanzler und schließt: „Gott schütze Österreich!“ Dieses Österreich ist damit Vergangenheit.
In der Nacht des „Anschlusses“ sitzt Helga Feldner mit ihrem Vater zu Hause vor dem Radioempfänger. „Ich habe gehört, wie der Schuschnigg gesagt hat: ‚Gott schütze Österreich!‘ Und mein Papa hat angefangen zu weinen. Ich habe nur die Emotion gespürt.“ Was der „Anschluss“ bedeutet, habe sie damals noch nicht verstehen können. Aber ihre Eltern ließen Helga Feldner nicht mehr auf die Straße. „Sie haben mich und meine Schwester beschützt, wie das gute Eltern tun.“

Audio: Schuschniggs Rede

Die Rede ist für Zigtausende illegale Nazis das Signal zum Losschlagen, für den Rest der Bevölkerung ist sie der Beweis, dass der Kampf entschieden ist. Die Machtübernahme vollzieht sich tumultartig, das Straßenbild ändert sich rasant. Schuschnigg bleibt trotz gegenteiliger Empfehlungen seines Umfelds in Wien: Am Abend des 11. März, nach seinem erzwungenen Rücktritt, fährt er nicht nach Aspern, wo eine Maschine für seine Flucht bereitsteht. Er geht nach Hause, „bis die Gestapo ihn auf den Morzinplatz (dort hatte sie ihr Wiener Hauptquartier eingerichtet, Anm.) abgeholt hat“, so Historiker Wenninger.
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Ambivalenz zwischen „Arbeitermörder“ und „Opfer“

„Persönlich war Schuschnigg ganz sicher überfordert mit der Funktion, die er bekleidet hat. Er war nicht in der Lage, auch nur kurzfristige Dynamiken abzuschätzen, er hat unterm Strich ziemlich naiv agiert“, so Wenninger. Der nunmehrige Ex-Kanzler steht zunächst unter Hausarrest und verbringt die Folgejahre bis zur Befreiung 1945 in mehreren Konzentrationslagern. Drei Jahre nach dem Krieg wandert Schuschnigg in die USA aus und übernimmt eine Professur in Missouri. Man lässt ihm finanzielle Zuwendungen zukommen, seine früheren politischen Gefährten wollen ihn aber nicht zurückholen – zu heikel wäre der Verantwortungsdiskurs. 1968 kehrt er mit stillschweigendem Einverständnis der SPÖ nach Österreich zurück und stirbt 1977 in Tirol. Ein Eingeständnis von Schuld für seine Entscheidungen im autoritären Ständestaat – Schuschnigg war als Justizminister einer der Hauptverantwortlichen für die Hinrichtung von Februar-Kämpfern – verweigert er bis zum Schluss. „Schuschnigg war ein eingefleischter Antidemokrat und ein Sozialistenhasser“, sagt Wenninger. Politisch war er jemand, dem demokratischer Konsens fremd war.
Als Identifikationsobjekt tauge Schuschnigg nicht, sagt auch der Historiker Dirk Rupnow. „Letztlich teilt er das gleiche Problem mit Dollfuß, diese Ambivalenz in der Beurteilung, gewissermaßen zwischen ‚Arbeitermörder‘ und ‚Opfer der Nazis‘. Es war ein autoritäres Regime, insofern gibt Schuschnigg keine Vorbildfigur ab, auch wenn er gegen die  Nazis und für ein selbstständiges Österreich war“, so Rupnow. 
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Einmarsch unter Jubel

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Am späten Abend übernimmt der Nationalsozialist Arthur Seyß-Inquart die Amtsgeschäfte. In allen Landeshauptstädten reißen Nazis die Macht an sich, Hakenkreuzfahnen werden im ganzen Land gehisst, noch ehe die Wehrmacht Österreich erreicht.
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Hitler hat unter dem Decknamen „Unternehmen Otto“ die „Militärische Weisung für den Einmarsch in Österreich“ ausgestellt, rund 65.000 Mann mit teils schwerer Bewaffnung marschieren am 12. März in den frühen Morgenstunden ein. Militärischen Widerstand gibt es nicht, das Bundesheer zieht sich wie befohlen zurück  - der „Anschluss“ ist vollzogen. Die Bevölkerung begrüßt die Truppen mit Jubel und Blumen.
Hitlers Wagenkolonne rollt am Nachmittag in Braunau am Inn über die österreichische Grenze. In Linz werden die entscheidenden Weichenstellungen vollzogen, ehe Hitler am Vormittag des 14. März die Weiterreise nach Wien antritt, wo er im Hotel Imperial absteigt. Schon an diesem Tag säumen Hunderttausende die Straßen. Am nächsten Tag jubeln Hitler rund 250.000 Menschen bei seiner Rede auf dem Heldenplatz zu. Vom Altan der Neuen Hofburg verkündet er den „Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“.

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Der Terror beginnt

Frau H. erinnert sich noch 80 Jahre später gut an diesen einen Tag. Auch sie, damals ein kleines Kind, ging zu den Menschenmassen in der Wiener Innenstadt. „Man hat erzählt, am Heldenplatz wird eine große Feier sein. Alle Leute sind hingelaufen, und neugierig, wie ich war, bin ich auch hingelaufen.“ Das Gebrüll habe sie schon von Weitem gehört. „Das Schreien dieser vielen Tausenden Menschen, die geschrien haben: ‚Heil, Heil!’ Das ist ein ganz besonderes Schreien. Und ich habe versucht, immer näher zum Heldenplatz zu kommen. Aber es war so ein Gedränge, die Menschen sind auf die Bäume gekrochen, um ja etwas zu sehen. Sofort habe ich gewusst, das ist gegen mich, dieses Schreien, dieses Brüllen. Ich gehöre nicht dazu.“

Hitler verkündet den „Eintritt in das Deutsche Reich“

Sofort nach dem „Anschluss“ beginnt der Terror gegen Juden und Andersdenkende. In Österreich entfesselt sich Gewalt, die selbst die deutschen Nazis nicht erwartet haben: „Leider haben Angehörige der Partei in den letzten Tagen in großem Umfange in völlig undisziplinierter Weise sich Übergriffe erlaubt“, schreibt der Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, an Gauleiter Josef Bürckel. 
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Laut dem Historiker Wenninger entsteht in diesen Tagen in Österreich ein vorübergehendes Machtvakuum: „Teile der bisherigen österreichischen Verwaltung werden beseitigt, inhaftiert, alte Rechnungen beglichen. Auf der anderen Seite ist es zu diesem Zeitpunkt die zweite Generation von nicht jüdischen Wienern, die den Judenhass mit dem großen Löffel gefüttert bekamen. Das betrifft nicht alle Wiener. Viele Zeitzeugen erzählten auch von dem Entsetzen über die Szenen, die sich in den Straßen abgespielt haben. Sie waren völlig fassungslos vom Ausmaß der Gewalt und Widerlichkeit.“ Auch Duizend-Jensen vom Wiener Stadt- und Landesarchiv argumentiert ähnlich: In Deutschland sei die Machtübernahme durch die Nazi schrittweise vor sich gegangen, in Österreich ruckartig. „In Österreich waren die Nationalsozialisten zuvor in der Illegalität gefangen. Sie mussten sich zunächst zurücknehmen. Und daher ist meine These, dass es jetzt plötzlich erlaubt war, das zu tun, was man schon lange tun wollte.“
Wiener Verkehrsbetriebe
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Propaganda, der keiner entkommt

Nachträglich „legitimiert“ wird die Annexion durch eine Volksabstimmung am 10. April, von der Juden ausgeschlossen sind. Die nationalsozialistische Propaganda ist enorm und omnipräsent, Fahnen, Banner und Plakate werden in allen Städten angebracht, auch Presse und Rundfunk sind bereits gleichgeschaltet. Vielerorts finden Auftritte hoher Funktionäre der NSDAP statt, etwa von Propagandaminister Joseph Goebbels, Reichsmarschall Hermann Göring und Hitler selbst. Bei der Abstimmung gehen viele Menschen gar nicht in die Wahlzelle, sondern machen öffentlich ihr Kreuz bei „Ja“, um nicht in den Verdacht zu geraten, gegen die Nazis zu stimmen. Am Abend des Votums verkündet Gauleiter Josef Bürckel aus dem Konzerthaus in Wien das Ergebnis: 99,73 Prozent haben mit Ja gestimmt.

Gauleiter Bürckel meldet das Abstimmungsergebnis

Mit dem „Anschluss“ verändert sich das Leben von Millionen Menschen schlagartig. Für Helga Feldner und Frau H., damals Schulmädchen in Wien, stellt er die große Zäsur im Leben dar. Beide werden sofort ihrer Schulen verwiesen, Erlebnisse, die sich tief einbrennen. „Da ist der Direktor hereingekommen in der Früh und hat schon ein großes Parteiabzeichen am Revers getragen.  Und er sagte: ‚Kommt’s heraus, ihr müsst sofort die Schule verlassen, weil wir keine Juden in dieser Schule dulden.‘ Und plötzlich ist mir zu Bewusstsein gekommen: Ich bin anders. Dabei habe ich mich vorher gar nicht anders gefühlt. Ich darf nicht in meine Schule gehen, in die ich jeden Tag gegangen bin. Das war ein Knick in meinem Leben. Ich bin danach heulend nach Haus gegangen. Das hat mir zugesetzt, dass ich plötzlich ein Mensch zweiter Kategorie war“, sagt Feldner. Auch bei Frau H. kam der Schuldirektor und setzte die jüdischen Kinder vor die Tür. „Für mich war das ganz furchtbar. Plötzlich wird man ausgeschlossen, hinausgeschmissen. Das war ein sehr großer Schock für mich.“

Gestern Freund, heute Feind

Dass sich die Menschen, die gestern noch Nachbarn und Freunde waren, heute anders verhalten, „das hat man sehr schnell gemerkt“, erzählt H. Monat für Monat werden neue Verbote für Juden erlassen. H.s Mutter wird gekündigt, ein fremdes Ehepaar kündigt Bedarf an der Wohnung der Familie an, die binnen 14 Tagen ausziehen muss. „ Jeder Jude musste den Judenstern tragen. Und für mich als Kind, wenn ich aus der Wohnung herausgelaufen bin, sind die Buben aus den Seitengassen gekommen und haben mich umgeworfen und mich bespuckt. Und ich hab natürlich geweint und geschrien, und die Erwachsenen sind herumgestanden, haben gelacht, und keiner hat mir geholfen.“
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Was noch folgen sollte, ahnen die wenigsten. Der industriell durchgeführte Massenmord ist unvorstellbar. „Hitler war ja schon einige Jahre in Deutschland. So hat die Familie gewusst, dass die Übernahme Österreichs durch Hitler für Juden gefährlich ist. Niemand hat erwartet, dass so ein Morden eintritt. Trotzdem hat sich jeder jüdische Mensch hier in Wien bemüht, das Land zu verlassen“, erinnert sich H. Ihre Familie hat die Bewilligung für die Ausreise und ein Affidavit, einen Bürgen, aus den USA. Doch das Geld fehlt. H.s Mutter will das Geld für eine Schiffskarte zusammenkratzen, es gelingt ihr jedoch nicht: „Es war uns unmöglich, das Land zu verlassen.“
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Überleben als Zufall

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Die Juden werden in Sammelwohnungen gepfercht. Von dort aus geht es oft direkt in die Konzentrationslager. H. und ihre Mutter entgehen diesem Schicksal, weil ein Freund des Vaters sie während der Kriegsjahre versteckt. „Er hat erkannt, dass, wenn er nichts unternimmt, werden wir in die Konzentrationslager gesteckt. Dann werden wir getötet. Und er konnte nicht zuschauen, wie die Frau und das Kind seines besten Freundes einfach ermordet werden.“
H. ist überzeugt, dass die Menschen vom Massenmord gewusst haben: „Jeder hat gewusst, die Konzentrationslager sind Todeslager. Aber nicht nur die jüdischen Menschen haben gewusst, das ‚Gehen auf Transport‘ bedeutet den Tod. Alle Menschen, die hier in Wien gelebt haben, haben davon gewusst, dass diese Menschen, die man da auf Lastautos zusammenpfercht, dass die in den Tod fahren.“

Frau H.: Eine Zeitzeugin erinnert sich

Die Werkstatt, in der sich H. vier Jahre lang vor den Nazis versteckt, wird bei einem Fliegerangriff auf Wien 1944 zerbombt. In einem zweiten Versteck bleibt als Aufenthaltsort nur der Keller, wo Kind und Mutter von November 1944 bis April 1945 in Kälte und Dunkelheit ausharren müssen. Die Befreiung 1945 war wie eine Wiedergeburt. „Das war wunderschön. So eine Freude, so ein Aufatmen, vor allem die ganze Angst, die man täglich während der Hitler-Zeit gespürt hat, die ist weg. Die ganze Angst ist weg“, erinnert sich H., die aus diesen Jahren bleibende Wunden davonträgt. „Nichts geht spurlos an einem vorbei, was immer man erlebt, es bleibt. Und das, was ich diese Jahre mitgemacht habe, bleibt mir für immer“, sagt H. nun, 80 Jahre später.

Jahre in Theresienstadt

Helga Feldner ereilt ein anderes Schicksal: Ihr Name steht auf einer Transportliste nach Theresienstadt. Ihre Mutter meldet sich samt Schwester dazu, um das Kind nicht allein lassen zu müssen. Im Lager erwarten sie jahrelanger Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Parasiten und der allgegenwärtige Tod. Der Weiterfahrt vom Durchgangslager nach Auschwitz entgeht Feldner nur durch Zufall: „Und wir haben ja keine Ahnung gehabt, wo es hingeht. Sonst wäre ja keiner mitgefahren.“ Man sagt ihr, im nächsten Lager gebe es mehr zu essen. Doch am Tag des Abtransports schläft das Kind in einem Kasernenbett ein und verpasst den Zug. Feldner entgeht in den folgenden Jahren noch weitere Male der Fahrt ins Todeslager Auschwitz.
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Helga Feldner erfuhr als Kind aus dem Radio vom „Anschluss“
Schließlich erhalten die Schwestern und ihre Mutter eine Freigabe durch den Leiter der Landwirtschaft in Theresienstadt. „Es war Ernte, und er hat niemanden gehabt. Er hat dann ein paar Leute freigestellt, und die haben dann am Feld gearbeitet. Und ich habe bis zur Befreiung in der Landwirtschaft gearbeitet.“ Die russischen Soldaten, die das KZ befreien, behandeln die Insassen gut und können viele Menschen in Theresienstadt retten.
Wegen der Verhängung einer Quarantäne kann die Familie erst im Juni nach Hause fahren. „Wir bekamen dann in Wien eine Wohnung zugewiesen, eine ‚arisierte‘ Wohnung, in der der Nazi noch gesessen ist“, erinnert sich Feldner. Viele Verwandte sieht sie nie wieder. Ihr Großvater ist im April 1945 offenbar verhungert, ihr Cousin Albert wurde mit acht Jahren vergast.
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„Schlussstrich“ unmöglich

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Heute gehen die beiden Überlebenden in Schulen und zu Veranstaltungen, halten Vorträge und geben Interviews. Schüler, die ihnen zuhören, reagieren zumeist betroffen. Die Historiker sind oft überrascht, wie mangelhaft das Wissen um die Zusammenhänge bei jungen Menschen ist.
Bildung, Faktenwissen, ein Besuch in Mauthausen: „Ich glaube, wir müssen uns damit konfrontieren, dass es nicht so einfach ist, Aufklärung durch Bildung zu erreichen“, sagt Rupnow von der Uni Innsbruck. „Alle wissen mittlerweile, sie müssen eine Betroffenheitshaltung zeigen, aber ein historisches Wissen und ein Verständnis für Zusammenhänge fehlt über weite Strecken. Und viele glauben inzwischen auch, dass diese Geschichte nichts mehr mit ihnen zu tun hat.“ Auch Duizend-Jensen sieht hier Defizite: „Der Geschichtsunterricht ist dann nicht ausreichend, wenn keine Zusammenhänge erklärt werden. Und ich finde, man kann sehr wohl mit zwölfjährigen Kindern eine NS-Thematik kindgerecht behandeln. Es gibt schon viele Initiativen, auch vonseiten des Unterrichtsministeriums, etwa www.erinnern.at. Hier müssten die Zeithistoriker und -historikerinnen ansetzen und Projekte an Schulen machen. Aber je mehr Zeitzeugen sterben, desto weniger können in die Schulen gehen.“
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Die Historikerin sieht die Gefahr, dass sich ähnliche Stimmungen wie damals wieder aufbauen könnten. Auch der Antisemitismus sei noch immer weit verbreitet, „bei der Rechten sowie bei der Linken“, so Duizend-Jensen. Gerade Hetze und Propaganda gegen Juden und Migranten in Sozialen Netzwerken seien angsteinflößend. Das Gedenkjahr biete hier eine Gelegenheit, zu erinnern und Zusammenhänge zu vermitteln.
Einen „Schlussstrich“, wie er wiederholt diskutiert wurde, kann es nicht geben, wie Frau H. sagt. „Das sind solche Verbrechen, die aus der Menschheitsgeschichte nicht ausradiert werden können.“ Sie habe überlebt und wisse, wie es damals war. „Ich muss es hinausschreien, damit die Menschen hören, was sie damals angestellt haben.“

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