Szenenbild aus „Nero“ bei den Bregenzer Festspielen
Bregenzer Festspiele/Karl Forster
„Nero“

Im Sog des Wahnsinns

Nach einer CoV-bedingten Absage des Festivals im Vorjahr haben die Bregenzer Festspiele die aktuelle Saison am Mittwoch mit der extrem selten aufgeführten Oper „Nero“ von Arrigo Boito eröffnet. Die Seelenschau des wahnsinnig werdenden römischen Kaisers – als düsterer Alptraum inszeniert – entpuppte sich dabei als inhaltlich schwierig, aber musikalisch fesselnd.

Opernraritäten werden oft aus gutem Grund kaum gespielt, das ist auch bei „Nero“ nicht viel anders, liegt zu einem Teil aber auch an der Entstehungsgeschichte des Werks. Der italienische Schriftsteller, Librettist und Komponist Boito hatte mehrere Jahrzehnte lang an seiner Bearbeitung des „Nero“-Stoffes gefeilt, fertig wurde sie bis zu seinem Tod 1918 trotzdem nicht. Postum 1924 unter Arturo Toscaninis Leitung an der Mailänder Scala uraufgeführt, wurde „Nero“ zwar gut aufgenommen, war aber hinter der Weiterentwicklung des Genres zurückgeblieben und verschwand recht schnell in der Versenkung.

Von Festspielintendantin Elisabeth Sobotka ausgegraben, inszenierte nun Olivier Tambosi, was den primär als Verdi-Librettisten bekannten Boito jahrzehntelang umtrieb. Neben der bekannten Nero-Geschichte (Mord an der Mutter, Brandschatzung Roms) sind das der Glaubenskrieg zwischen Christen- und Heidentum, der Kampf Gut gegen Böse und – als wäre das noch nicht genug für drei Stunden – eine Liebesgeschichte. Tambosi, der „Nero“ als extreme Herausforderung bezeichnete, illustriert die ausufernd-verwirrenden Handlungsebenen mit drastischen Bildern.

Szenenbild aus „Nero“ bei den Bregenzer Festspielen
Bregenzer Festspiele/Karl Forster
Düstere Rituale des Heidentums, verklärende Reinheit des Christentums – eine Diskrepanz mit Sprengkraft

Drehende Alptraumszenen

Die Assoziation zum Alptraum liegt nahe: Auf der von Frank Philipp Schlössmann gestalteten Bühne drehen sich fortlaufend düstere und blutige Szenen weiter. Hohe Lichtsäulen in unterschiedlichen Farben unterteilen die Bühnensegmente, in denen sich leicht abstrahierte Verortungen mit weitgehend leeren Räumen und Installationsversatzstücken abwechseln. Die Idee ist nachvollziehbar – trägt aber angesichts der ohnehin komplizierten Verhältnisse nicht gerade zum besseren Verständnis bei.

Hinweis

„Nero“ ist bei den Bregenzer Festspielen noch am 25. Juli um 11.00 Uhr sowie am 2. August um 19.30 Uhr im Festspielhaus zu sehen. ORF III zeigt eine Aufzeichnung der Produktion am 8. August um 21.50 Uhr. Die Ö1-Liveübertragung zum Nachhören ist sieben Tage in radiothek.ORF.at verfügbar.

Kaum Orientierungshilfe bieten die Kostüme von Gesine Völlms, mit denen der stückimmanente Dualismus durch gedoppelte Figuren unterstrichen werden soll. Inflationärer Einsatz von Theaterblut, zwei Neros, zwei dornengekrönte Märtyrer, gefühlte Heerscharen an Nonnen und Römern machen die Inszenierung zu einem Historienalptraum für Horror- und Fantasyfans.

Die Grenze zum Trash liegt diesem Genre bekanntlich ganz besonders nahe. Wo sie bei „Nero“ überschritten wird, hofft man, dass es mit Absicht passiert ist – etwa wenn schwarz geflügelte Dämonen Billard spielen.

Szenenbild aus „Nero“ bei den Bregenzer Festspielen
Bregenzer Festspiele/Karl Forster
Der Mord an seiner Mutter Agrippina verfolgt Nero noch im Traum

Im Bann des Bösen

Hat man aufgegeben, Handlungssträngen folgen zu wollen, kann einen Boitos „Nero“ dennoch in seinen Sog ziehen. Unter der musikalischen Leitung von Dirk Kaftan beeindrucken die Wiener Symphoniker mit präziser Präsentation der vielschichtigen Komposition, an die Boito – als Mitglied der italienischen Künstlerrevoluzzertruppe Scapigliatura – den Anspruch eines Gesamtkunstwerkes angelegt hatte.

Der Komponist sei sehr bewusst mit Brüchen umgegangen, beschreibt Kaftan im Programmheft-Interview. In „einer Art Mosaiktechnik“ habe Boito musikalische Welten einander gegenübergestellt, die „als Ganzes betrachtet eben doch eine Einheit bildet“.

Rom, musikalisch niedergebrannt

Gewaltige Massenszenen, in denen der beeindruckend auffahrende Prager Philharmonische Chor glänzen kann, wechseln sich mit intimen und introvertierten Momenten ab, die Musik oszilliert zwischen Romantik und modernen Ansätzen. Wenn bei Wagenrennen und dem brennenden Rom die szenische Umsetzung in einem Opernhaus an ihre Grenzen kommt, trägt die Musik darüber hinaus.

Szenenbild aus „Nero“ bei den Bregenzer Festspielen
Bregenzer Festspiele/Karl Forster
Rom ist niedergebrannt, das Ende ist offen

Auch den Solisten verlangt „Nero“ dementsprechend vieles ab. Der mexikanische Tenor Rafael Rojas – der als Calaf in „Turandot“ und Rodolfo „Boheme“ schon einige Bregenz-Erfahrungen vorweisen kann – meistert die schwierige Rolle mit Bravour. Bariton Lucio Galla ist stimmlich perfekt als Verschwörer Simon Mago besetzt, Brett Polegato ist ihm als Jesus-Double Fanuel ein würdiger Gegner.

Svetlana Aksenova überzeugt als Verführerin Neros Asteria, die in Boitos Version als Brandstifterin Roms (mit Neros Duldung) die zündende Rolle hat. Mezzosopranistin Alessandra Volpe muss indessen als Rubria versuchen, die Religionen auszusöhnen und gleichzeitig Nonne und heidnische Priesterin sein, was der Sängerin gelingt, ihrer Figur aber am Ende den Tod bringt.

Den von Boito geplanten fünften Akt zu „Nero“ gab es nie. Das Ende nach dem vierten Akt verlangt, obwohl halboffen, aber ohnehin nicht sehr zwingend nach einer weiteren Staffel, so der Eindruck am Ende der Bregenzer Aufführung. Das (nur sehr vereinzelt maskierte) Premierenpublikum im voll besetztem Festspielhaus zeigte sich letztlich höflich interessiert und applaudierte wohlwollend. Boitos „Nero“ ist in Bregenz nur dreimal auf dem Spielplan. Danach wird das Werk wohl eher eine Rarität bleiben, darf man mutmaßen.