Jessica Hausner
Niko Havranek
Zur Person: Jessica Hausner

Das Unheimliche in ironischer Distanz

Jessica Hausner ist eine der international anerkanntesten Filmschaffenden Österreichs. Nun widmet die Diagonale der Regisseurin, Produzentin und neuerdings Filmakademie-Regieprofessorin eine Gesamtretrospektive.

Da ist ein Mädchen, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, „unförmig“ schreiben die einen, „eine Außenseiterin“ schreiben die anderen in ihren Filmrezensionen nach der Cannes-Premiere 2001. Dabei ist nichts davon im Film zu sehen: Dieses Mädchen, Rita, tut Dinge, die irrational wirken, weil sie unpassend sind. Sie freundet sich mit einem jüngeren Buben an. Sie versucht, mit blauem Lidschatten einen Busfahrer zu verführen. Sie tut Dinge, die wenig Wirkung zeigen.

Und dann, ohne Vorwarnung, tut sie etwas Drastisches, das maximale Wirkung hat. Doch es verändert sich erschreckend wenig, bis zum letzten, herausfordernden Blick der Protagonistin direkt in die Kamera. „Lovely Rita“ ist der erste Langspielfilm von Jessica Hausner, die bis dahin einige Kurzfilme gedreht hatte. Der Film wird in die renommierte Cannes-Nebenschiene „Un certain regard“ eingeladen und international gefeiert.

Lovely Rita
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„Lovely Rita“ (2001) ist Hausners erster Langspielfilm

Es ist kein plötzlicher Erfolg einer Unbekannten: Zwei Jahre zuvor hat Hausner mit Martin Gschlacht, Barbara Albert und Antonin Svoboda die Filmproduktionsfirma coop99 gegründet. Sie gehört da bereits längst zu jenen jungen Filmschaffenden, die in der Presse gerne als „Nouvelle Vague Viennoise“ bezeichnet wurden und zu denen auch Kolleginnen wie Albert und Mirjam Unger gehörten. Allesamt drehten sie etwa zur selben Zeit ihre ersten Langfilme.

Das Unheimliche, pandemisch interpretiert

Auch bei Albert und Unger geht es um junge Frauen, in „Lovely Rita“ bleibt aber das Drastische, das geschieht, unerklärt. Diese Fremdheit im Dasein und Abwesenheit von Psychologisierung sind Stilelemente, die auch Hausners spätere Filme prägen. Schon 2020 sollte der alljährliche „Zur Person“-Schwerpunkt der Diagonale Jessica Hausner gewidmet werden.

Das Festival konnte dann aber nicht stattfinden, heuer wird die Gesamtretrospektive nachgeholt, ergänzt um das neue Musikvideo „Attwenger – ersoundsieso“ und um eine Buchpräsentation. Und noch etwas ist anders: So mancher Film beginnt mit dem pandemieerfahrenen Publikum ganz neu zu schwingen, wie mit einem Resonanzkörper, der speziell auf das Irreale reagiert. Ihr zweiter Film „Hotel“ von 2004 etwa handelt von einer jungen Frau, die in einem entlegenen Berghotel als Rezeptionistin beginnt.

Die leeren, langen Hotelgänge und die Fremdheit allen zwischenmenschlichen Umgangs sind Elemente, die damals Horror- und Thrillerfilme zitieren, heuer aber an die verwaiste Gastronomie erinnern. Die Assoziation ist zwar nicht besonders ambivalent, aber deswegen nicht weniger unheimlich. 2005 bekommt Hausner für den Film den Großen Diagonale-Preis.

Subversive Heiterkeit

2009 dreht sie ihre erste internationale Koproduktion „Lourdes“, da schieben sich auf Heilung hoffende Menschenmassen durch den titelgebenden Wallfahrtsort, mittendrin Sylvie Testud als junge gelähmte Frau im Rollstuhl, die der trainierten Güte ihrer katholischen Betreuerinnen widerborstig begegnet. Wie anders soll ein Mensch denn darauf reagieren, vom Leben zur Hilfsempfängerin degradiert worden zu sein?

In „Lourdes“ entsteht daraus eine subversive Heiterkeit. Im Interview zum Filmstart nennt Hausner Jacques Tati als gestalterische Inspiration: „Viele von Tatis Filmen sind stark stilisiert. Viele seiner Szenenbilder sind sehr lange Einstellungen, die wie ein Tableau aufgebaut sind, bei dem Vordergrund und Hintergrund miteinander spielen.“ Auch diese formale Entfremdung ist ein Motiv, das Hausner in Zukunft beibehält.

Die Liebe als Kostüm

Wieder vergehen fünf Jahre bis zum nächsten Film, der stilistisch noch strenger ist: In „Amour Fou“ sucht ein Dichter namens Heinrich von Kleist eine Frau, mit der er einen Doppelselbstmord aus Liebe begehen kann. Da die erste dankend ablehnt, umwirbt er eine zweite, Henriette Vogel, mit der die alberne Tat gelingt.

Ob der historische Kleist so gehandelt hat, sei „nicht sehr wichtig“, sagt Hausner. „Ich habe historisch genau recherchiert. Aber ich wollte nie einen biografischen Film über Kleist machen, sondern eine künstliche Welt erschaffen, um eine eine allgemeingültige Geschichte zu erzählen.“

Die querschnittsgelähmte Christine (Sylvie Testud) fährt nach Lourdes, erwartet aber keine Wunder.
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Die querschnittsgelähmte Christine (Sylvie Testud) fährt nach Lourdes

Wie in „Lourdes“, wo die Hierarchie zwischen den betreuten Wallfahrenden, den Helferinnen des Malteserordens und ihren Vorgesetzten durch den bunten Ordenshabit betont und stilisiert ist, sind es hier die historischen Kostüme und auch die gestelzten Dialoge, die das Rollenspiel verdeutlichen, das die handelnden Personen auf sich genommen haben, um einer selbstauferlegten Erwartung gerecht zu werden. Es ist in „Amour Fou“ selbst die Liebe ein Kostüm, das Kleist und Vogel angezogen haben, und das den Film in eine ironischen Distanz zu seinem Geschehen bringt.

Mutterschaft und Fremdbestimmtheit

„Lourdes“ war in den Wettbewerb um den Goldenen Löwen nach Venedig eingeladen, „Amour Fou“ wieder in die Nebenschiene nach Cannes, dafür bekommt Hausner nächster Film „Little Joe“ (2019) mit der Einladung in den Hauptwettbewerb nach Cannes jene höchste cineastische Ehre, die einer österreichischen Regisseurin bis dahin noch nie zuteil wurde, weiblichen Regisseurinnen ohnehin nur absurd selten. Die britische Hauptdarstellerin Emily Beecham bekommt prompt den Darstellerinnenpreis.

Wieder nutzt Hausner Genreelemente, diesmal von Science Fiction und Horror, um die dystopische Geschichte einer Genetikerin zu erzählen, deren jüngste Arbeit eine niedliche Zimmerpflanze ist, die ihren menschlichen Besitzerinnen gute Laune verschafft. „Mir geht’s darum, Strukturen aufzudecken: Wer hat welche Rolle, wer steht in der Hierarchie an welcher Stelle?“, so Hausner. „Daher ist meine Inszenierung eher wie eine Choreografie. Mir geht’s um Fremdbestimmtheit, nicht darum, wie originell oder authentisch jemand sein kann.“

Mutterschaft, Oscars, und Professur

„Little Joe“ erlaubt eine Interpretation als Parabel auf eine von Stimmungsaufhellern gedämpfte Gesellschaft, inszeniert in prächtigen farbigen Tableaus in Blau-Grün-Tönen mit gefährlich roten Akzenten. Und noch ein zweites inhaltliches Motiv wird miterzählt, nämlich die Mutterschaft der arbeitenden Hauptfigur, die sich nicht durch ihr Mutterdasein definiert: „Das ist nach wie vor tabuisiert, dass eine Mutter ihr Kind liebt, aber etwas anderes auch noch lieben kann, sich auch noch für andere Dinge interessiert, etwa für ihren Beruf. Dieses Tabu aufzubrechen halte ich für fundamental.“

Inzwischen ist Hausner eine der wenigen österreichischen Filmschaffenden, die in der Oscars-Jury stimmberechtigt sind. Außerdem hat die zwangsweise Zurückgezogenheit in den Monaten der Pandemie für ihr nächstes Filmdrehbuch genützt, in dem es um eine Lehrerin geht, die ihre fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler zu einem sektenartigen Projekt verführt. Und vor allem: Hausner wurde Ende 2020 als erste weibliche Regieprofessorin an die Wiener Filmakademie bestellt.

Zu ihrer Kernaufgabe, Regie zu unterrichten, kommt noch eine weitere auf sie zu, wie sie im Interview mit FM4 anlässlich ihrer Professur im Jänner sagt: das lange vernachlässigte Wissen um Filme von Regisseurinnen bei ihren Studierenden zu erweitern. „Was haben die mir die ganze Zeit erzählt an der Filmakademie. Regisseurinnen wurden einfach nicht namentlich genannt und erwähnt. Aber es gab sie!“ Hausner ist damit eine international erfolgreiche Vorbildfigur, die Filmstudierenden in Wien bisher dringend gefehlt hat.