Gemeindebau in der Donaustadt
Elodie Grethen
„Beat House Donaustadt“

So pumpert der Gemeindebau

Ab in die Donaustadt: Am Eröffnungswochenende der Wiener Festwochen lädt Intendant Christophe Slagmuylder in eine Gegend, die nicht unbedingt bekannt ist für kulturelle Blüten. Durch Zufall hat es der 22. Bezirk heuer als Spielort ins Programm geschafft – mit einem „kleinen Festival im Festival“ wird er zum Versuchslabor für dezentralere Kulturpolitik. Zum Auftakt wird dem Gemeindebau wortwörtlich auf den Puls gefühlt.

„Ich bin momentan unterwegs wie eine Zeugin Jehovas oder eine Staubsaugervertreterin“, sagt Anna Witt und meint das nicht einmal ironisch. Seit gut zwei Wochen ist die Künstlerin und Otto-Mauer-Preisträgerin im Alfred-Klinkan-Hof im 22. Bezirk unterwegs, wo um 16.00 Uhr so etwas wie eine Herzschlagsymphonie von den Balkonen pumpern soll.

Für ihr Projekt „Beat House Donaustadt“ fühlt Witt, ausgerüstet mit einem Ultraschallgerät, den Donaustädterinnen und Donaustädtern den Puls. Konkrete „Untersuchungsstation“ ist der eher schmucklose 70er-Jahre-Gemeindebau zehn Gehminuten von der U1-Station Kagran entfernt. Rund tausend Leute wohnen im Klinkan-Hof auf 17 Stiegen und 13 Stockwerken, mit großzügig angelegtem Innenhof. Es ist keine Blüte des Roten Wien, aber auch kein untypischer Bau – und nicht ganz untypisch ist wohl auch die Skepsis gegenüber dem, was da derzeit vom Zentrum an die Peripherie gebracht werden soll, wie Witt im ORF.at-Interview erzählt.

2011 ließ Anna Witt in der belgischen Industriestadt Charleroi die Herzen wummern

Die in partizipativen Kunstprojekten erfahrene Künstlerin kann das grundsätzlich verstehen und will sich niemandem aufdrängen, doch „es gibt auch viele Leute, die sich freuen, dass hier etwas passiert“ – das sind insgesamt sechs Theaterproduktionen, Performances und künstlerische Projekte am Eröffnungswochenende – und eben Witts pulsierendes, vielstimmiges „Hier bin ich“, das vom zehn Monate alten Baby bis zur 80-Jährigen, vom pakistanischen Geschäftsmann bis zum Schneewart der dortigen Eishalle ganz viele „Herzschlagspender“ einbezieht: ein starkes Symbol für die Öffnung, die die Festivalausgabe 2019 verspricht – nicht zuletzt auch nach den hermetisch-glücklosen vergangenen Saisonen unter Tomas Zierhofer-Kin.

Hinweis

„Beat House Donaustadt“ ist am Samstag, 11. Mai, um 16.00 Uhr im Alfred-Klinkan-Hof (Donaustadtstraße 30, 1220 Wien) bei freiem Eintritt zu erleben. Ein detailliertes Programm zum Festwochen-Eröffnungswochenende ist auf Festwochen-Website zu finden.

Kein Heimspiel für die Kultur

„Ich bin gegen diese Idee der Oppositionen“, hatte Slagmuylder bereits bei seiner Bestellung im Juni vergangenen Jahres gesagt – ein Statement gegen ein elitäres Festivalprogramm. „Wir müssen offener, großzügiger sein im Angebot“, bekräftigt er jetzt im ORF.at-Interview in der Erste Bank Arena anlässlich der Eröffnungspressekonferenz. „Das ist eine Verantwortung, die wir heute haben.“

Die Erste Bank Arena, vom Alfred-Klinkan-Hof 15 Minuten Fußweg entfernt, ist das Zentrum des Festwochen-Donaustadt-Specials. In dem Betonungetüm hat die Kultur üblicherweise kein Heimspiel. Hier trainiert die Eishockey-Mannschaft Vienna Capitals auf 7.000 Quadratmetern, im größten Eissportzentrum Österreichs.

Straßenbahngleise in Wien-Donaustadt
Elodie Grethen
Ab an die Peripherie

Was die dezentrale Kultur anlangt, hat Wien, wie Experten und Interessenvertretungen schon seit Jahren betonen, grundsätzlich eher Nachholbedarf: Angefangen von den Großinstitutionen – Stichwort Donauplatte, die etwa seit Jahren ins Spiel gebracht wird, wenn wieder eine Kulturinstitution auf Standortsuche ist – bis zu Mobilerem, Temporärem gelten die Flächenbezirke trotz des größten Bevölkerungswachstums als kulturelles Brachland – etwa im Vergleich mit Paris und London. Was sich nun unter der neuen Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) ändern soll: Im März dieses Jahres präsentierte man mit den „kulturellen Stadtlaboren“ einen neuen Schritt in Richtung diesseits des Gürtels.

Theatermarathon mit Kleinstadtbühnenbild

Sind diese stadt- und kulturpolitischen Agenden der Grund, der die Festwochen diesmal an die Peripherie treibt? „Nein, das ist tatsächlich reiner Zufall“, sagt Slagmuylder. Vielleicht ist es das aber dann doch nicht ganz: Als langjähriger Leiter des Brüsseler Kunstenfestivaldesarts hat er sich bereits einen Namen gemacht als einer, der hinausgeht, auch in Problembezirke wie Molenbeek. Ein Dialogsuchender, aber „ohne Abstriche bei der Exzellenz des Programms“ zu machen, wie er selbst betont.

Dass es diesmal die Donaustadt geworden ist, hatte vor allem praktische Gründe: Für die Eröffnungsperformances brauchte es eine große Halle – und besagte Erste Bank Arena kam da gerade recht. Für seinen fünfeinhalbstündigen Theatermarathon „Diamante“ braucht Mariano Pensotti gleich Platz für eine ganze Kleinstadt. Die einer Telenovela ähnliche Vorführung exerziert anhand einer privaten Werksiedlung eines argentinischen Bergbauunternehmens durch, wie sich eine kleine Gesellschaft zunehmend zerfleischt. „Süchtig machend“, meinte Slagmuylder in der Pressekonferenz.

Auf die Wirkung von Raum setzen auch die brasilianische Choreografin Alice Ripoll, die hier mit Tänzerinnen und Tänzern aus den Favelas von Rio de Janeiro auftritt, und die polnisch-kanadische Choreografin Ula Sickle, die ihre Performer eine riesige schwarze Fahne schwenken lässt – im Hintergrund die polnischen Massendemonstrationen zur Verteidigung der Frauenrechte von 2016.

„Wir müssen neue Institutionen erfinden“

Wer am Wochenende rund um die Erste Bank Arena laute Schreie hört, der könnte auf eine weitere Performance gestoßen sein: Gleich nebenan, auf einer typischen Wiener Gstettn, lässt die belgische Künstlerin Sarah Vanhee Donaustädterinnen und Donaustädter ausloten, welche Facetten sie dem Schreien abgewinnen können. Dass zwei Wochen vor der Aufführung das Team noch nicht komplett war, bereitete Slagmuylder keine schlaflosen Nächte: „Ich kenne Leute, die sagen: Schau, niemand ist interessiert, es funktioniert nicht. Ich glaube das nicht. Es geht darum, einen einladenden Ort zu schaffen. Das dauert eben ein wenig, gerade wenn man es noch nie probiert hat.“

Ob dieser einladende Ort für ihn auch nächstes Jahr wieder Donaustadt heißen wird, lässt der Festwochen-Intendant offen. Die „Peripherie“ wird es aber auch nächstes Jahr sein: „Wir müssen neue Institutionen erfinden und eine neue Art des Teilens von künstlerischen Prozessen.“