Bühnenfoto von „Scarlet Letter“ (Wiener Festwochen)
Bruno Simao
Performance und Sexismus

Darf man noch pervers sein?

Einmal viele nackte Männer, einmal viele nackte Frauen: Zwei Performances bei den Festwochen stellen die Frage nach dem neuen Ausverhandeln der Geschlechterverhältnisse in der Folge von „#MeToo“. Ist die Abschaffung des Patriarchats nur im Tausch gegen einen neuen Puritanismus zu haben?

Zuerst Sonntagabend: Irgendwann einmal während der zwei Stunden in der Halle E des MuseumsQuartiers steht Autorin und gleichzeitig Hauptdarstellerin Angelica Liddell ganz hinten auf der Bühne. Direkt vor ihr geht ein Vorhang zu. Sie hebt ihn und tritt davor. Noch ein Vorhang geht zu. Das Ganze wiederholt sich zehnmal. So viele Bewusstseinsschichten tief, wie Vorhänge zugehen, sitzen die Tiraden und Rituale des „Scarlet Letter“. Dort, in den tiefsten Tiefen des Es nach Sigmund Freud, geht es nicht immer schön zu.

Früher, schreibt Liddell in der Einleitung zum Katalog sinngemäß, durfte die Kunst aus diesem wilden Pool schöpfen: Der Knabe Eros, nackt, steckt seinen Finger in die Vagina der Venus, Pygmäen „besorgen es anderen Pygmäen von hinten“, Zeus vergewaltigt Europa in Form ein Stiers. In Liddells theatraler Tanzperformance werden dann noch weitere Zitate gebracht, weitere Namen genannt – darunter, wer sonst, Marquis de Sade, dem von Sodomie über Erniedrigungen und Folter bis zu Mord alles recht war.

Angelica Liddell

Angelica Liddell ist eine spanische Performancekünstlerin und Theatermacherin. 1993 gründete sie die Gruppe Atra Bilis Teatro und hat seither 25 Bühnenarbeiten realisiert.

Hasstirade und Schwanztanz

Der Titel „The Scarlet Letter“ bezieht sich auf den gleichnamigen Roman von Nathaniel Hawthorne, der im 19. Jahrhundert mit seinen puritanismuskritischen Schriften bekannt wurde. In seinem Buch muss Hester, weil sie Ehebrecherin ist, den roten Buchstaben A (für „adulteress“, was im Roman nicht explizit erwähnt wird) auf der Brust tragen. Auch bei Liddell heißt die Hauptdarstellerin Hester und trägt ein A auf dem Kleid. Zudem zitiert sie viel aus dem Buch.

Bühnenfoto von „Scarlet Letter“ (Wiener Festwochen)
Bruno Simao
Sie gehen in Formation, bilden Tableaux vivants – und tragen Tische herum: Liddells nackte Männer

Liddells Hester lechzt nach Schwänzen und regt sich auf über Frauen, die aufgrund ihrer sexuellen Frustration – keiner wolle mit ihnen schlafen, weil sie über 40 und hässlich seien – zu männerhassenden Emanzen würden. Liddell verschont sich selbst in der Rolle der Hester keinen Moment. Ihre Tiraden dauern teils mehr als zehn Minuten und werden in einem Tempo geschrien und gehechelt, das jedem Rapper Respekt abringen würde.

Die Schwänze der Tänzer nimmt sie in die Hand – und an einer Stelle sogar in den Mund. Die jungen Darsteller selbst ergehen sich indes in nicht weniger emsigem Treiben. Sie tragen Tische herum, stehen Spalier, bewegen sich in Formation über die Bühne und finden sich gemeinsam mit Hester zu frivolen Tableaux vivants zusammen.

Hinweis

„The Scarlet Letter“ ist bei den Festwochen noch am 13. und 14. Mai jeweils um 19.30 Uhr im MuseumsQuartier, Halle E zu sehen. Am 13. Mai findet im Anschluss an die Vorstellung ein Publikumsgespräch statt.

Ist Sex sexistisch?

Mag sein, dass in der „#MeToo“-Debatte das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Aber das gilt umso mehr für Liddells Kritik an der „#MeToo“-Debatte. Was genau soll die Misogynie in der Tirade gegen Frauen über 40 überhöhen und dadurch verdeutlichen? Kippt die Kritik am Patriarchat tatsächlich in Puritanismus? Wird in der Debatte die Ablehnung struktureller Ungleichheit und struktureller Gewalt mit der Ablehnung des Prinzips „Mann und Frau“ verwechselt? Oder erliegt gerade im Gegenteil Liddell dieser Verwechslung?

Für Männer heißt es „Klappe halten“

Und: Hat nicht schon die feministische Ikone Simone de Beauvoir den Ketzer Marquis de Sade verteidigt und seinen Doppelroman „Justine“ und „Juliette“ als „Offenbarung“ gefeiert, trotz der Gewalt gegen Frauen? Gerade als Mann, muss man sagen, wird man durchaus verwirrt aus dem Saal entlassen. Zum Glück wird in „#MeToo“-Debatten auf Social Media ständig gefordert, Männer sollten dazu die Klappe halten. Man darf seine Verwirrung also getrost für sich behalten, zumindest als Mann.

„Bolero“ und zwölf nackte Frauen

Weniger verwirrend gestaltete sich am Montagabend ein paar Meter weiter in der Halle G des MuseumsQuartiers Monica Calles „Ensaio para uma Cartografia“. Weniger verwirrend deshalb, weil es keine Botschaft gibt, die es zu dechiffrieren gilt, das steht schon im Programmheft, also kann man sich überraschen lassen und dem Treiben auf der Bühne staunend folgen. Zu staunen gab es genug, auch sich zu wundern.

Ensaio de palco do espectáculo Ensaio para uma Cartografia de Mónica Calle.
Bruno Simao
Calles Nackte tanzen zu Ravels „Bolero“ – beziehungsweise sie wippen monoton vor sich hin, was gegen Ende anstrengend wird

Zwölf Frauen, die jüngste um die 20, die älteste über 50, mit normalen, nicht normierten Körpern, sind nackt auf der Bühne und wippen im Takt zu Maurice Ravels „Bolero“. Unterbrochen wird das von Probenaufnahmen, bei denen man einen Dirigenten hört, der einem Orchester Instruktionen gibt. Zwischendurch üben sich die Frauen im Ballett-Zehenspitzentanz und im Spielen von Geige und Cello, mit wechselndem, bewusst überschaubar gehaltenem Erfolg. Dann wieder „Bolero“. Das ganze dauert gute zwei Stunden lang.

Hinweis

„Ensaio para uma Cartografia“ ist bei den Festwochen noch am 14. und 15. Mai jeweils um 20.30 Uhr im MuseumsQuartier, Halle G zu sehen. Am 14. Mai findet im Anschluss an die Vorstellung ein Publikumsgespräch statt. Im Foyer der Halle E & G wird vor den Vorstellungen Barbara Balestas Kazazians 13-minütige Dokumentation „Casa Conveniente“ über Monica Calle und ihren Theaterraum gezeigt.

Nacktheit und Scham

So erzählt, erschließt sich das Besondere an der Darbietung nicht, und schon gar nicht die Standing Ovations am Schluss. Gleich am Anfang sagt Calle dem Publikum, dass es darum gehe, gemeinsam einen Weg zurückzulegen – und genau das passiert tatsächlich. Am Anfang wirken die Darstellerinnen unsicher, als würden sie sich für das seltsame Treiben auf der Bühne und für ihre Nacktheit schämen; das Publikum schämt sich mit und fragt sich lange, was das soll.

Irgendwann im Mittelteil entspannt man sich jedoch gemeinsam. Es ist klar, dass sich an den Vorgängen auf der Bühne nicht mehr viel ändern wird bis zum Schluss. Die Darstellerinnen finden sich mit ihrer Nacktheit ab und damit, dem Publikum ein seltsames, monotones Spektakel zu bieten, das Publikum findet sich mit dem seltsamen, monotonen Spektakel ab und beginnt Details nicht nur wahrzunehmen, sondern auch zu genießen – jeder etwas anderes.

Mitdirigieren und schmusen

Ein alter Mann im Publikum fing an mitzudirigieren, verhalten, aber sichtlich begeistert; das lesbische, streng bürgerlich gestylte Pärchen zwei Reihen weiter vorn begann zu kuscheln. Andere trauten sich zu lachen. All das strahlte auf die Darstellerinnen zurück, die immer stolzer dreinblickten und am Ende, verschwitzt und sichtlich glücklich, breit ins Publikum grinsten. Die letzte Runde „Bolero“ war dann schon fast so etwas wie ein gemeinsames Fest und, simpel ausgedrückt, einfach ästhetisch schön.

Ensaio de palco do espectáculo Ensaio para uma Cartografia de Mónica Calle.
Bruno Simao
Dilettieren auf der Geige: Kein Virtuosentum soll die Intimität der Nackten mit dem Publikum stören

Fragen statt Erkenntnisse

Ein Abend mit zehn nackten Männern und einer furiosen Frau, ein Abend mit zwölf nackten Frauen. Die Klammer, die beide Abende umschließt, ist der Wunsch nach Freiheit. Nach Liddells Stück bleibt die Frage, ob der Trinität „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ nicht ein Widerspruch zwischen Freiheit und Brüderlichkeit innewohnt. Geht Freiheit nur bis zu dem Punkt, an dem man andere verletzen könnte – und falls ja, wo zieht man die Trennlinie?

Calles Stück wiederum versöhnte Freiheit (Nacktheit als bewusste Zumutung) und Intimität (das Zusammenwachsen von Darstellerinnen und Publikum). Intimität, die man sich nicht verdient hat, ist Gewalt, Prostitution oder Pornografie. Die beglückende Intimität am Ende aber haben sich Darstellerinnen und Publikum hart erarbeitet. Sie ist verdient.

Viel Stoff zum Nachdenken also über das neue Ausverhandeln der Geschlechterverhältnisse für ein gefordertes Publikum. Und so manche werden den „Bolero“ nicht mehr hören können, ohne dabei an wippende Frauenkörper zu denken. Die Fantasie löst dann Bo Derek ab, die im Film „Zehn – Die Traumfrau“ erklärt, was sie jeweils zu welcher Musik am liebsten macht. Zum „Bolero“? „Fuck“.