Timothy Snyder bei seiner Rede an Europa
Die ERSTE österreichische Spar-Casse Privatstiftung/APA-Fotoservice/Tanzer
Timothy Snyder

Starke Warnung vor europäischen Mythen

In einer ersten „Rede an Europa“, aus der sich eine Vorlesungsreihe entwickeln soll, hat der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder im Rahmen der Wiener Festwochen die Europäer gemahnt, sich von ihren Mythen loszusagen. Nur so könne die Europäische Union zu ihrer wahren Stärke finden und „eine Quelle der Hoffnung, vielleicht die einzige Quelle der Hoffnung für die Zukunft sein“.

In seinem Vortrag auf dem Judenplatz im Herzen Wiens vor dem Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah schlug Snyder, der Geschichte an der Yale University lehrt, die Brücke zwischen den beiden Gedenktagen am 8. und 9. Mai: den Sieg über Nazi-Deutschland 1945 und den Europatag anlässlich der Rede des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman 1950, die den Einigungsprozess auf dem Kontinent einleitete.

Der 49-Jährige rief dazu auf, bei der Wahl der Erinnerungskultur an die Ereignisse von damals bis heute nicht den Mythos von Nationalstaaten heranzuziehen, sondern die Geschichte, „wie sie tatsächlich war“. Der „netten, kleinen, unplausiblen“ Erzählung von „unschuldigen“ Nationalstaaten, die sich zusammenfanden und kooperierten, erteilte er eine Absage.

Die EU als einzige Antwort für „gescheiterte Großreiche“

Die Gründungsmitglieder der späteren EU seien nämlich keine Nationalstaaten gewesen, sondern „die europäische Integration ist die Schöpfung von gescheiterten und scheiternden Großreichen (Kolonialreichen, Anm.)“. Aus Sicht Snyders war der von NS-Diktator Adolf Hitler angezettelte Zweite Weltkrieg der „letzte europäische Versuch“, ein solches Großreich zu schaffen.

Timothy Snyder bei seiner Rede an Europa
Die ERSTE österreichische Spar-Casse Privatstiftung/APA-Fotoservice/Tanzer
Snyder hielt seine Rede vor dem Denkmal auf dem Judenplatz

Als auch dieser scheiterte, sei man in Europa in dieser Phase vor der Wahl gestanden: Nationalstaaten oder neue Imperien. Zu beiden sei es aber nicht gekommen, sondern zur Europäischen Union als „einzige neue, fruchtbare, produktive Antwort“ auf die Frage, wie es weitergehen sollte, analysierte Snyder.

Ein Ausnahmekonstrukt zwischen Imperien

Die EU ist für den Historiker, der auch am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien tätig ist und sich insbesondere mit der Geschichte Osteuropas und dem Holocaust auseinandergesetzt hat, in dieser Form eine „Ausnahme“, denn der Rest der Welt sei nach wie vor von Imperien wie den USA, Russland oder China geprägt.

Dieses Ausnahmekonstrukt – „eine Einheit wie keine andere auf der Welt“ – habe Erscheinungen des Imperialismus wie Eroberungen, um sich angeblich überlebensnotwendige Ressourcen zu sichern, die Zerstörung von Staaten und – wie etwa beim Massenmord an den Juden – und das Verbrechen, Menschen nicht als Menschen zu betrachten, überwunden. „Die Europäische Union stärkt die europäischen Staaten. (…) Die Europäische Union schützt den Staat“, betonte Snyder. Indem sie Marktmonopolen entgegenwirke oder Bildung und faktenbasierten Journalismus fördere, setze sie einer Entmenschlichung etwas entgegen.

„Weil ihr eine Zukunft habt“

Die Imperien um Europa, die „Feinde“ des geeinten Europa, versuchten freilich, die EU – eben „weil ihr eine Zukunft habt“ – an ihrer schwächsten Stelle anzugreifen: bei den Mythen der einzelnen Staaten, indem sie sagten, dass es Nationalstaaten gebe „und ihr könnt wieder dahin zurück“. Zugleich seien scheinbar überwundene imperialistische Erscheinungen, die Europa aus der Geschichte der eigenen Imperien kennt, „überall um uns herum“.

Timothy Snyder bei seiner Rede an Europa
Die ERSTE österreichische Spar-Casse Privatstiftung//Katharina Fröschl-Roßboth
Snyder warnt vor dem Versuch einer Rückkehr zu Nationalstaaten

Snyder nannte beispielsweise die Strategie, Flüchtlinge und Migranten, nicht als Menschen zu betrachten, eine „Dehumanisierung“ durch die Digitalisierung und Versuche, andere Staaten zu zerstören, wie den Irak-Krieg der USA und den Russland-Ukraine-Konflikt. Daher dürfe Europa seinen Mythen nicht erliegen, sondern solle seine wahre Geschichte und geschichtliche Verantwortung anerkennen. Das „wird zu Schmerz führen, aber es wird auch zu Stärke führen. (…) Ihr seid mehr als eure Mythen. Ihr seid Hoffnung für die Zukunft“, mahnte der Geschichtsforscher. „Ihr müsst es schaffen.“