Szenenbild aus Mossul im Irak
Stefan Bläske
Das Theater des Milo Rau

Die Antike und der Islamische Staat

Das Polittheater des Schweizers Milo Rau polarisiert. Nicht nur die Verlagerung von Klassikern an prekäre Spielorte ist bei ihm Programm. Theater ist bei Rau auch immer Tribunal, wie er im Gespräch mit ORF.at vor der Aufführung seines Stücks „Orest in Mossul“ bei den Wiener Festwochen erklärt. Schon bei Aischylos könne man nämlich lernen, dass das Gewaltmonopol beim demokratischen Staat liegen müsse.

Ein Gespräch über notwendige Risiken, die Aktualität des antiken Dramas und eine richtig dosierte Respektlosigkeit.

ORF.at: In Punkt neun Ihres „Genter Manifests“ haben Sie sich dazu verpflichtet, einmal im Jahr in einem Krisen- oder Kriegsgebiet zu produzieren. Warum ist Ihnen diese Regel überhaupt wichtig?

Milo Rau: Mir geht es darum, ein sehr gut finanziertes System des europäischen Stadttheaters zu nutzen, um Netzwerke jenseits der üblichen Routen – Brüssel, New York, Paris, Wien – zu schaffen und neue Player reinzuholen, Leute, die das wirklich nötig haben. Zugleich lernt man durch ungewöhnliche Spielorte viel über das wahre Gesicht der Globalisierung. Wir kennen natürlich die Fernsehbilder aus Mossul und beziehen Öl von dort, im Grunde genommen aber machen wir blinde Kunst. Das wollte ich durch den Zwang, da hingehen zu müssen, verändern, wie schon zuvor beim „Kongo-Tribunal“.

Die Reise war für Ihr gesamtes Team höchst risikoreich. Vor der Kunstakademie in Mossul, in der Sie geprobt haben, ist kurz vor Ihrer Ankunft eine Autobombe explodiert …

Rau: Die Stadt war vorher sieben Monate lang umkämpft, es war uns klar, dass das auch aktuell eine sehr gefährliche Region ist. Trotzdem ist es meine künstlerische Überzeugung, dass man wissen sollte, wovon man spricht. Das ist auch ein Grund, warum wir Shakespeare, Moliere oder Schiller heute noch aufführen. Sie wussten, wovon sie sprachen, sie haben mittendrin gelebt.

Aufführungsbild von Orest in Mossul
Michiel_Devijver

Noch ein Einwand: Was sagen Sie zu den – auch von Ihrem Team vorgebrachten – Zweifeln, ob die Produktion nicht neokoloniale Dimensionen hat?

Rau: Wir befinden uns natürlich in einer neokolonialen Situation, mit uns Westeuropäern auf der Gewinnerseite. Aber das bringt die Notwendigkeit einer Solidarisierung überhaupt erst mit sich. Die Alternative wäre, Bilder in den Medien zu transportieren und Öl zu konsumieren ohne irgendeinen Austausch. Davon abgesehen trägt die Kunst, die sich nicht in den ausgetretenen Bahnen bewegt, zwangsläufig Widersprüche in sich. Besonders das Theater bringt das, was es kritisiert, selbst zur Darstellung – und begibt sich somit in das Feld des Kritisierten hinein.

Wie oft waren Sie selbst in Mossul, und wie war das Arbeiten dort?

Rau: Seit drei Jahren reise ich in die Region. Mossul ist seit 2017 befreit, letztes Jahr war ich zum ersten Mal dort. Man muss schon sagen, dass es von Monat zu Monat besser wird und der Wiederaufbau große Fortschritte macht. Natürlich, es gibt geschätzte 3.000 Schläfer des IS in der Stadt, und es gibt viele Anschläge. Projekte wie „Orest in Mossul“, das sagen die Iraker selbst, sind deswegen von großer symbolischer Bedeutung, weil sie zeigen, dass es geht – dass Leute aus Europa kommen und nicht gleich in die Luft gesprengt werden.

Schweizer Regisseur Milo Rau
APA/AFP/Boris Horvat
Theatermacher Milo Rau will aus den Klassikern auch für die Zivilgesellschaft lernen

Sie wählen in Ihren Produktionen immer wieder das Format „Tribunal“, jetzt auch am Ende von „Orest in Mossul“. Warum eigentlich diese Affinität?

Rau: In vielen griechischen Stücken, auch in der „Orestie“, ist die Tribunal-Form ein zentrales Format. Sie lässt zwei gegensätzliche Ideen aufeinandertreffen: Soll man verzeihen oder jemanden zum Tod verurteilen, oder beerdigen oder nicht beerdigen? Es gibt da auch keine Lösung, das ist das Tragische daran. Dieser Grundgedanke setzt sich in meinen Stücken fort, im Unterschied zum, wenn man so will, üblichen politischen Theater, das Lösungen geradezu erarbeitet.

Sie haben die Thematik der Vergebung ja bereits angesprochen. Aischylos’ Stück endet mit einem Freispruch, Ihre irakischen Darsteller können sich dazu nicht durchringen. Warum?

Rau: Eine Versöhnung ist dann möglich, wenn es ein staatliches Machtmonopol gibt, das als außenstehender Dritter auftritt. Das gibt es im Irak aber nicht, es gibt keine funktionierende Rechtsprechung. Wenn du 3.000 IS-Soldaten nicht bestrafst, dann hast du, denke ich, ein Problem. Es steht schon bei Aischylos geschrieben: Wer ohne Strafe verzeiht, schafft die Gerechtigkeit ab, und das ist natürlich das Schlimmste, was passieren kann.

Die „Orestie“ ist – mit dieser Frage nach Gerechtigkeit – sozusagen das passende Stück, das Sie nach Mossul gebracht haben.

Rau: Ja. Die „Orestie“ war auch schon immer eines meiner liebsten Stücke. Es handelt davon, dass Agamemnon, der Zerstörer der größten Stadt des Nahen Ostens, dorthin zurückgekehrt ist und Gewalt mit sich bringt – und davon, wie die europäische Zivilisation es schafft, diese mittels der Demokratie zu überwinden. Die „Orestie“ ist nicht zuletzt das Gründungsdokument Europas, wahnsinnig gewalttätig und voller Hoffnung auf die Mehrheitsdemokratie, ein sehr schönes Stück, das bei uns aber keine interessanten Debatten hervorrufen kann, weil wir diesen Prozess bereits durchlaufen haben. Momentan zumindest. In Mossul hingegen wirft es konkrete, im Grunde unbeantwortbare Fragen auf.

„Wir müssen Pflaster auf die Wunden kleben, nicht in ihnen herumstochern“, zitiert das „SZ-Magazin“ einen irakischen Schauspieler nach der Aufführung in Mossul. Sie haben dort mit der Inszenierung eines Kusses von zwei Männern viele vor den Kopf gestoßen. Muss Kunst in Ihren Augen Grenzen überschreiten, also gewissermaßen respektlos sein?

Rau: Ich denke, es ist beides wichtig. Der Austausch und eine Ausdrucksmöglichkeit, um schreckliche Erlebnisse zu verarbeiten, und eine Schule der Zivilgesellschaft, also fast schon eine Pädagogik des Heranführens. Natürlich ist man da mit kulturellen Unterschieden konfrontiert – wobei es durchaus Ähnlichkeiten gibt: Gewalt ist kein Problem, aber der Hollywood-Kuss auf die Wange schon fast zu viel.

Respektlosigkeit also ja, aber richtig dosiert?

Rau: Es ist trickreich, ein komplizierter Diskurs. Ich halte es grundsätzlich nicht für respektlos, nach Mossul zu fahren – und dass wir dort nicht gleicher Meinung sind, ist zwangsläufig und absolut in Ordnung. Sonst wäre es reine Pädagogik und kein Theater.