Szene aus „Oblivion“
Bernhard Müller, Sommerszene
„Oblivion“

Performance auf Marie Kondos Spuren

Eine Bühne voller Müll: Für „Oblivion“ hat die belgische Performerin Sarah Vanhee ein knappes Jahr lang ihren Abfall gesammelt, sortiert und in Kisten gefüllt – im Laufe des Abends wird er auf dem Boden verteilt. Im Hinblick auf die Klimakrise ist das Thema aktueller denn je. Dass sich am Ende die Reihen deutlich gelichtet haben, liegt jedoch nicht allein an der Hitze in den Wiener Gösserhallen.

Wenn bei über 30 Grad Außentemperatur am Eingang der unweit des Wiener Hauptbahnhofs gelegenen Hallen Fächer ausgeteilt werden, zeichnet sich schon im Voraus ab, dass der Abend zur Herausforderung werden könnte. Zum Fächer und zum Programmheft wird auch ein Blatt mit Suchbegriffen und Internetlinks ausgehändigt, auf einem kleinen Bildschirm sind Bilder von Abfällen zu sehen, auf einem davon ein Dattelkern, auf einem anderen eine Bananenschale. Der Saal ist beim Einlass bereits hell beleuchtet – und die belgische Künstlerin dabei, den von ihr gesammelten Müll auf der Bühne zu verteilen.

In über 40 Kisten steht dieser am Rand, immer wieder steht sie auf, um eine neue Kiste zu holen, hineinzugreifen und die Objekte – so nennt sie den kuratierten Abfall an einer Stelle – zu drapieren. Vanhees Performance entstand vor knapp fünf Jahren – und jeder der Handgriffe von ihr wirkt perfekt einstudiert. Daran, dass ein Joghurtbecher – von denen es am Abend noch viele zu sehen geben wird – einen bestimmten Platz auf der Bühne hat, lässt die Künstlerin keine Zweifel.

Szene aus „Oblivion“
Phile Deprez
Mühevoll legt Vanhee ihren Müll auf die Bühne, scheinbar hat jedes Objekt einen genauen Platz

Monolog als Resteessen

Während das Publikum versucht, ein Muster in der Collage zu erkennen, wird Vanhees Monolog zu einer Art Performance als Resteessen. Popkulturelle Referenzen treffen dabei auf persönliche Anekdoten, Schlingensief auf Müsli, Konsumkritik auf erläuternde Hinweise zum Stück, die damit zu einer Erweiterung des Programmhefts werden.

Vanhees Stimme bleibt die meiste Zeit ruhig und gleichmäßig, manchmal so sehr, dass Assoziationen mit einer Computerstimme entstehen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der Monolog mit viel Präzision vorgetragen wird – Details zum chemischen Prozess bei der Erdölgewinnung inklusive.

Gelichtete Reihen noch in der ersten Stunde

Dass Vanhee bereits nach knapp 25 Minuten mit den Danksagungen beginnt, ist dramaturgisch nachvollziehbar: Denn beim Auspacken zusehen und den Monologfragmenten zu lauschen geht auf die Substanz, insbesondere bei den Temperaturen im Saal. Dass das Licht im Publikumsraum erst kurz vor Ende erlischt, verschärft die Situation nur noch. Die ersten Besucherinnen und Besucher verlassen nach rund 40 Minuten der insgesamt über zweistündigen Performance den Saal.

Die Pausen, die Vanhee immer wieder in ihren Monolog einbaut, fordern ganz besonders viel Konzentration beim Zusehen – verleiten aber auch zum Nachdenken. Etwa darüber, in welcher Beziehung der Mensch und sein Abfall stehen, wie intim sich der Einblick in Vanhees Leben eigentlich gestaltet – und nicht zuletzt, ob es Parallelen zur Methode von Netflix-Aufräum-Päpstin Marie Kondo gibt, mit der man sich von Dingen trennt, indem man sich selbst fragt, ob sie noch Freude bereiten. („Does it spark joy?“)

Hinweis

„Oblivion“ ist bei den Festwochen noch am 14. und 16. Juni, jeweils um 20.00 Uhr, in den Gösserhallen in Wien-Favoriten zu sehen.

Süßes, Wein und Joghurt

Dass Vanhee ihren Müll ausleert ist jedenfalls auch eine Art Seelenstrip. Auf der Bühne finden sich zig Joghurtbecher, ein paar Packungen Süßigkeiten, Magnesiumtabletten, Wein und Reismilch. Wäre Vanhee nicht selbst auf der Bühne, hätte man wohl immer noch ein Bild von ihr. Nachdem die Künstlerin darüber berichtet, wie sie nach der Geburt ihres Kindes für ein paar Wochen keinen Müll gesammelt hat, erzählen die einzelnen Objekte auf der Bühne plötzlich eine andere Geschichte – und der Müll entpuppt sich als vielseitiges Erzählvehikel.

Langer Monolog der Ausscheidungen

Zur Geduldsprobe entwickelt sich das Stück ungefähr zur Halbzeit, als Vanhee Tagebucheinträge rezitiert, in denen ihr Stuhlgang in ausuferndem Detail beschrieben wird. Natürlich ist auch das Abfall – fairerweise müsste man dem Publikum aber auch zugestehen, dass Ausscheidungen gedanklich ergänzt werden können. So sparte die Erzählung nicht mit Angaben zu Form, Farbe und Okkasion, für viele Grund genug, endgültig das Handtuch zu werfen. Dass die Bühne mittlerweile bis an den Rand der ersten Reihe mit Müll zugepflastert war, hielt einige nicht davon ab, zu gehen – sie wichen über die unberührten Stellen aus, auch direkt vor Vanhees Augen.

Wien war aber offenbar nicht die einzige Stadt, in der das Publikum vorzeitig den Saal verließ, denn es war fixer Teil von Vanhees Monolog, die darin sagte, sie hatte ursprünglich geplant, jedem Zuschauer und jeder Zuschauerin ein Stück ihres Mülls zur Ansicht zu geben. Doch wieviel würde davon übrig bleiben, wenn so viele Leute aufstünden und gingen und sich damit den wertvollen Müll behielten, fragt Vanhee.

Wer den Monolog der Ausscheidungen übersteht, wird mit ein paar flotteren Passagen belohnt: Zu Musik verteilt Vanhee ihre letzten Kisten auf dem Boden, tanzt und tänzelt dabei durch das vermeintliche Chaos – denn umgeworfene Objekte werden gleich wieder aufgestellt. Anschließend erzählt sie frei aus ihrem Leben – auf den Übertiteln im Hintergrund ist nur zu lesen „Sarah improvisiert“.

Viel Persönlichkeit im letzten Drittel

Das genau durchstrukturierte Gerüst, das Sprache und Spiel gleichermaßen beeinflusst und Passagen anfangs in die Länge zieht, wird bereits in einem der Momente davor aufgebrochen: Als die Künstlerin eine der Kisten hebt, fallen die daneben gestapelten Schachteln um – ein offensichtliches Versehen, das mit einem leicht ungläubigen Schmunzeln von ihr abgetan wird. Mit diesem Moment war die Monotonie der zwei ersten Drittel abgelegt, am Ende fühlten sich einige wohl gar so, als hätte man die Performance gemeinsam überstanden.

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Fin. #oblivion #festwochen2019 #festwochen

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Themen wie Verschwendung, Konsumverhalten und Umweltverschmutzung werden nur angedeutet – vielmehr ist es Vanhees Auseinandersetzung mit sich selbst, ein – stellenweise zu – intimer Einblick in das Leben einer Künstlerin. All jene, die bis zum Ende geblieben sind – am Schluss war der erst ausverkaufte Saal zu rund einem Drittel leer – belohnten das letztlich musterlose Müllbild mit höflichem Applaus. Viele, aber nicht alle, werden wohl vor allem der frischen Luft wegen das Innere der Gösserhallen rasch geräumt haben. Wer Vanhee im Anschluss beim Auf- und Einräumen hilft, blieb letztendlich unklar – hätte sich aber jedenfalls extra Beifall verdient.