Leuchtendes Rathaus 1930 zur Eröffnung der Wiener Festwochen
Ullstein Bild / picturedesk.com
Festwochen-Jubiläum

Warum die Kultur zum Leuchtturm wurde

Wenn die Festwochen heuer ihr 70-jähriges durchgehendes Bestehen feiern, dann wird vergessen, dass es bereits in der Zwischenkriegszeit, Ende der 1920er Jahre, Versuche für Festwochen in Wien gab. Etabliert hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits die Salzburger Festspiele. Wenn sich das neue, sehr fragile Österreich auf eines zwischen allen Lagern einigen konnte, dann auf die eigene kulturelle Überlegenheit: nicht zuletzt gegenüber Deutschland, an das sich etwa der Westen kurz anschließen wollte – und von dem man sich doch unterscheiden wollte.

Wien war um 1900 ein, wie es die Kulturwissenschaftler Carl Schorske und William Johnston in zwei unabhängigen Standardwerken beschrieben hatten, „Laboratorium der Moderne“. Und das in allen Kunstformen. Von Mahlers Musik- und Opernreform über die Architektur eines Adolf Loos bis zu den malerischen Arbeiten eines Gustav Klimt oder Egon Schiele, die damals noch gar nicht der Höhenkamm waren, die sie später werden sollten. Die Generalprobe der Moderne, so formulierte des der Politologe Anton Pelinka in seinem Buch zur Ersten Republik, sei im Jahr 1914 zu einer Generalprobe des Weltuntergangs mutiert – mit dem bekannten Ergebnis, dass die neuen Staaten nach 1918/19 nach nationalen Gesichtspunkten sortiert waren, das neue Österreich gerade so einen nationalen Standpunkt nicht einzunehmen wusste.

Plakat zu einer Max-Reinhardt-Veranstaltung bei den Wiener Festwochen 1929
Mayer-Marton, Georg / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com
Kultur als Identitätsträger. Max Reinhardt sollte in dieser Rolle bald auch in Wien sehr gefragt sein

Der Zusatz „Deutsch“-Österreich wurde ja bald gestrichen, und die allerorts blühenden Anschlusswünsche (man denke an die Ausgänge der Volksabstimmungen in Tirol und Salzburg 1921) wurden untersagt. „Das neue, das republikanische Österreich hatte, obwohl es nun nicht mehr als ‚Vielvölkerstaat‘ definiert wurde, die Fragmentierungen und Brüche des alten Österreich übernommen“, erklärt Pelinka – auch mit Verweis auf die These von Adam Wandruszka aus den 1950er Jahren von der übernommenen Dreiteilung des Landes in ein „christlich-konservatives“, „nationales“ (gemeint deutsch-nationales) und „sozialistisches“ Lager.

Der Rest als Großmacht der Kultur

Gegen alle Orientierungssuchen oder Anschlussgedanken in der Frühphase der Republik bot sich aber bald der Rückgriff auf die Kunst als ein mögliches gemeinsames Narrativ für das neue kleine Land an. Da war zunächst ja die von Manfred Wagner beschriebene Fortsetzung der Hochkultur aus der Zeit der Monarchie, etwa auf Wiener Boden, „als trotz der Revolution, die die Habsburger Monarchie beendete, alles weiterging wie zuvor“: „Die Oper, das Burgtheater, alles Institutionen, die nunmehr von den Bürgern und nicht mehr aus der kaiserlichen Privatschatulle bezahlt wurden, liefen so weiter wie davor. (…) Das kleine Restösterreich schien eine Kulturgroßmacht zu sein, da äußerlich gesehen die Tradition nicht gebrochen wurde und genug Substanz aus dem Fin de Siècle vorhanden war, auch noch für geraume Zeit die Bedürfnisse des Publikums zu befriedigen. Diese Stärke der kulturellen Tradition ist umso verblüffender, als politisch nicht mehr viel davon vorhanden war.“

Der erste Film zu den Festspielen

Ein Fundstück aus dem Archiv des ORF zur Geschichte der Salzburger Festspiele. Die ersten Bewegtbilder, auf denen auch Hugo von Hofmannsthal zu sehen ist. Und eine mysteriöse Frau, die Schauspielerin Rose Pinchot, mit der Max Reinhardt den „Jedermann“ in den USA groß rausbringen wollte.

Und in Salzburg setzte man rund um Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal dann das zum Anti-Bayreuth hochstilisierte österreichische Kulturfestival der Salzburger Festspiele in die Tat um. Dass diese Festspiele von Hofmannsthal zunächst noch dem Kaiser angetragen waren, tat nichts mehr zur Sache. Hofmannsthal konnte sich auf eine Reihe von Texten stützen, die sehr darum bemüht waren, das angeblich typisch Österreichische von einem deutschen Zugang auf die gemeinsame Kultur zu unterscheiden.

Max Reinhardt auf einer Probe zu >Jedermann< von Hugo von Hofmannsthal. links hinten Louis Rainer als Tod.  Domplatz. Salzburger Festspiele. Juli 1930.
Österreichisches Theatermuseum / Imagno / picturedesk.com
Max Reinhardt, 1930 auf dem Salzburger Domplatz bei einer Probe des „Jedermann“. Fotos wie diese wurden ikonisch für die Bildung eines neuen genuin österreichischen Selbstverständnisses. Als Copyright trugt dieses Foto stets den Hinweis: Carl Ellinger. Doch Ellinger war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Österreich. Wer diese Fotos schoss, zeigt ORF.at im Juli in der Doku-Fiction „Die doppelte Frau“.

„Ein österreichischer Vogel fliegt nicht so hoch“

Hofmannsthal hatte ab 1917 das „Heimatgebundene“, wie er etwa im Text „Österreich im Spiegel seiner Dichtung“ festhielt, entdeckt. Jeder Gedanke an das österreichische Schriftstellertum hatte da schon einen dicken Trachtenanzug an, wenn es etwa heißt: „Der österreichische Dichter hat zum Hintergrunde seine Landschaft. (…) Denke ich an Männer wie Kant, Hölderlin oder Nietzsche, so ist der geistige Aufschwung ohnegleichen vor meinem Auge und ich könnte an der Höhe des Fluges die Deutschheit und das Aufgeflogensein vom deutschen Geistesboden erkennen, nicht aber das Gefieder. Ein österreichischer Vogel fliegt aber nicht so hoch, dass man das Gefieder nicht erkennen könne.“

Wiener Festwochen 21:

Durch die Covid-19-Pandemie finden die Wiener Festwochen nun in zwei Etappen im Früh- und Spätsommer – von 3. bis 13. Juni und von 24. August bis 25. September – statt. Details zum Programm auf Festwochen.at.

„Dualismus“ nennt Hofmannsthal, was später die Verbindung von „Internationalismus“ und Lokalkolorit bei den Festspielen war. Der dualistische Hofmannsthal wollte die „kulturelle Zugehörigkeit zum deutschen Gesamtwesen“ ebenso erhalten sehen wie „unsere Zugehörigkeit zu Österreich“: Und Letztere nähre sich aus der Verbundenheit mit lokalen Traditionen. Misstraut wurde bei ihm dem kulturlos imaginierten deutschen Norden (obwohl ja gerade sein „Jedermann“ im Zirkus Schumann in Berlin seine Uraufführung erlebt hatte) – Dünkel gab es aber auch gegenüber Wien, denn nur in der mittelgroßen Stadt würde, so dachte Hofmannsthal mit Blick auf Salzburg, das österreichische Wesen wieder genesen.

Konzert der Wiener Philharmoniker auf dem Rathausplatz in Wien. Es war das letzte öffentliche Auftreten des langjährigen Direktors der Wiener Staatsoper Franz Schalk als Dirigent vor seinem Tod im September 1931. – 19310101_PD4634 – Rechteinfo: Rights Managed (RM)
Rübelt, Lothar / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com
Die einst elitäre Kultur wird in der Zwischenkriegszeit zum Massenevent. Hier ein Konzert der Philharmoniker unter Fritz Schalk, sein letzter öffentlicher Auftritt, 1931 auf dem Rathausplatz in Wien

Ein „imaginierter neuer Staat“

„Die Gründung der Salzburger Festspiele diente nicht zuletzt der schwierigen Aufgabe, dem als ‚vorgestellte politische Gemeinschaft‘ imaginierten neuen österreichischen Staat (…) mittels einer seiner seinen Bürgern gemeinsamen Kultur zu gesellschaftlichem Dasein zu verhelfen“, befindet der Germanist Norbert Christian Wolf, mittlerweile Professor in Wien, lange Zeit aber in Salzburg tätig, wo er sich mit seinem Buch über Hofmannsthal und die Festspiele zunächst nicht nur Freunde gemacht hatte.

Zitierte Bücher

  • Manfred Karner (Hg.): Die umkämpfte Republik. Österreich 1918–38, Studien Verlag.
  • Anton Pelinka: Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918–1938, Böhlau.
  • Norbert Christian Wolf: Eine Triumpfforte österreichischer Kunst. Hofmannsthals Gründung der Salzburger Festspiele, Jung & Jung.

Das Gefühl einer kulturellen Überlegenheit Österreichs wird jedenfalls gerade in den fragilen 1920er und frühen 1930er Jahren von verschiedenen Seiten gepflegt. Da gab es „Die Rede über Österreich“ von Anton Wildgans, die zunächst in Stockholm vorgetragen werden sollte, durch eine Erkrankung des Autors aber dann immerhin in der RAVAG ausgestrahlt wurde. Aber auch Ernst Krenek, den man wohl kaum mit Wildgangs in ein ästhetisches oder politisches Lager stecken würde, bediente die Lesart einer kulturellen Vormachtstellung Österreichs in seinem Essay „Von der Aufgabe, Österreicher zu sein“ (1931).

„Neue Freunde“ durch Großkulturevents

Die erfolgreiche Idee von Festspielen als kulturelle Klammer zur Identität, aber auch als Impuls zur Stimulierung des Tourismus, schlägt sich ab 1927 ebenfalls im Osten des Landes nieder. 1927, als man in Salzburg auch nach der Eröffnung des Festspielhauses zu einer Blüte kommt, richten Wien und Niederösterreich gemeinsame Festspiele aus. „Neue Freunde“ sollten in die Stadt kommen, drückte der damalige Bundespräsident Michael Hainisch den Gedanken dieser Veranstaltung aus. Sie startete knapp bevor im Juli der Justizpalast brannte. Kulturell war das Programm noch wenig innovativ – im Vordergrund stand die Tourismusförderung in den zwei Bundesländern des Ostens.

Die Sängerhalle auf der Jesuitenwiese 1928 von innen
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Eine Halle für die Schubertfeier im Sommer 1928, errichtet auf der Wiener Jesuitenwiese. 10.000 Menschen sollten hier gemeinsam singen können.

Die große Schubertfeier im Jahr darauf stand wiederum weniger als Markstein für die österreichische Identität, als vielmehr für das Verbindende zwischen der deutschen und österreichischen Kultur. Zum 100. Todestag des Komponisten sollten sich 100.000 Besucher einfinden; auf der Jesuitenwiese war eine eigene Sängerhalle errichtet worden – und als gemeinsamer Gruß galt damals schon das „Heil!“. Für Wien war das Event aber der große Magnet der Zwischenkriegszeit. Auf dem Dampfer „Stuttgart“ schifften alleine von New York 330 Sängerinnen und Sänger im Juli nach Europa über.

Als Wien allein weitermachte

Ab 1929 richtete Wien die Festwochen nur noch alleine aus, ja, führte diese sogar über das Jahr 1934 hinaus weiter fort, nachdem man die Fremdenverkehrskommission der Stadt als „privaten Verein“ deklariert hatte und so aus einer politischen Verlegenheit gekommen war. Erst mit dem Einmarsch der Nazis 1938 löste man den Wiener Festausschuss endgültig auf.

Die Kamm- und Fächermacher auf der Wiener Ringstraße vor dem Parlament. Gewerbefestzug 1929
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Rudolf von Labans „Tanzende Straße“ 1929 bei den einstigen Festwochen in Wien

Die erste Blüte erlebten die Festwochen sicherlich mit den Massenveranstaltungen 1929, etwa dem „Festzug der Gewerbe“, den die Choreografin Florentina Holzinger in ihrem heurigen Eröffnungsprogramm zitierte. Der Choreograf, Reformpädagoge und auch Sektierer Rudolf von Laban rief für die Festwochen auf dem Wiener Ring die „Tanzende Straße“ aus. Jede und jeder konnte Teil einer großen Tanzperformance sein, lautete Labans Credo, das er mit seiner Schule vor allem in der Schweiz in die Praxis umgesetzt hatte.

Sein „Festzug der Gewerbe“ war vor über 90 Jahren eine sehr eigenwillige Veranstaltung. Einerseits griff man dabei auf eine Tradition zurück, die das Wiener Handwerk schon zur Kaiserzeit praktiziert hatte. Andererseits war von Laban mit seiner Kompanie einer der großen Reformer im Tanzbereich, der ja sogar noch 1936 an der Vorbereitung der Olympischen Spiele mitwirkte – diese aber nicht mehr miterlebte, weil er rechtzeitig ins Exil fliehen konnte.

Die Schönheit der Arbeit und die Tradition der Gewerbe wollte Laban damals zelebrieren. Bei seinem Zug machten Hunderte auf der Straße mit, Zehntausende sahen zu. Kultur als Form der kritischen, öffentlichkeitswirksamen Hinterfragung wird man in diesem Spektakel nicht erkennen können. Wohl aber die Keimzelle dafür, dass sich gerade die oft als Wasserkopf titulierte einzige Großstadt des Landes ihrem künftigen Kurs als Kulturstadt verschrieben hatte. Zurückgegriffen wurde dafür einmal mehr auf das Erbe der Jahrhundertwende. Geöffnet wurde die Kunst aber in Richtung des Massenevents, wovon auch noch zahlreiche Konzerte der Philharmoniker auf dem Rathausplatz in der Zwischenkriegszeit zeugen sollten.