Liberté d’action
Nurith Wagner Strauss
Liberte D’Action

Im Maschinenraum Nachkriegseuropas

Der deutsche Theatermacher Heiner Goebbels und der Schweizer Schauspieler David Bennent haben den Festwochen am Donnerstag einen fulminanten ersten Bühnenabend im Wiener MuseumsQuartier beschert. Neben präparierten Klavieren und einem Bühnenbild, das an einen Maschinenraum der Nachkriegszeit gemahnte, stachen an diesem Abend die Texte des französischen Autors und Malers Henri Michaux hervor.

Wie ein DJ aus einer nie stattgefundenen Vergangenheit lehnt sich Bennent zu Beginn von „Liberte d’action“, in den deutschsprachigen Ausgaben von Michaux’ Werken als „Aktionsfreiheit“ übersetzt, über die Spulen eines Tonbandgeräts und spult eine Aufnahme seiner eigenen Stimme hin und her.

Die folgende Auseinandersetzung mit Michaux’ Texten faltet diese Szene lustvoll aus: Die Wiederentdeckung von etwas Vergangenem, dem es nachzuspüren gilt, weil es etwas mit der Gegenwart zu tun hat. Der Gegenwartsbezug bricht aber immer nur kurz aus den geschaffenen Stimmungen hervor, in die sich Bennent hineinsteigert, während er Michaux’ Gedichte und Miniaturen abwechselnd im französischen Original und auf Deutsch wiederholt.

Zwischen Klang und Trauma

„Ich brauche den Klang und Rhythmus des Originals und das Verständnis des Inhalts der deutschen Übersetzungen“, schreibt Regisseur Goebbels zu dieser Doppelung. Die Herangehensweise ist eine geglückte: In den französischen Passagen werden die Texte ganz zur Musik, in den deutschen Passagen wird ihr traumatischer Kern deutlich.

Liberté d’action
Nurith Wagner Strauss
David Bennent deklamiert sich zweisprachig durch Texte von Henri Michaux – und begeistert das Festwochenpublikum

Michaux, der als großer Einzelgänger der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts gilt, wurde einem großen Publikum als international ausstellender Maler und Verfasser von realen und fiktiven Reisebeschreibungen bekannt. Bereits Ende der 1940er Jahre experimentierte er mit LSD und erkundete mit seinen Texten poetische Zusammenhänge im Alltag.

Veranstaltungshinweis

„Liberte d’action“, mit David Bennent, Regie Heiner Goebbels.

Weitere Vorstellungen am 4. und 5. Juni um 19.30 Uhr in der Halle E und G des Wiener MuseumsQuartiers.

Wie wichtig seine Gedichte, Aphorismen und Miniaturen in den 1960er Jahren waren, zeigt sich darin, dass sich Paul Celan um die Herausgabe und Übersetzung zweier deutscher Michaux-Bände bemühte.

Sampling im Maschinenraum

Das mag an Gemeinsamkeiten gelegen haben. Mehrere Texte, die Bennent in der Szenerie eines analogen Maschinenraums, der Wirkungsstätte eines methodischen und ekstatischen Ingenieurs, vorträgt, stammen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Bei allem Witz und grotesker Verfremdung, die Michaux’ Texte auszeichnen, bricht bei ihm immer wieder der Krieg ein.

In „Ecce Homo“ etwa, einem Text, der so bei Goebbels nicht auf die Bühne kommt, aber durchaus mit gemeint ist, benennt Michaux den Zusammenhang von Fortschrittsglauben und Krieg: „Der Krieg! Das war der Mensch, immer er, der Mensch an der Spitze von Ziffern und Hypothesen.“

Parallelen zur Gegenwart

Bennents Figur führt zwischen Oszilloskop, Mikrofonen und Tonbandgerät eine spielerische Selbsterkundung vor, an deren Ende man stets – angelegt oder nicht – die Begleitumstände der CoV-Pandemie erkennt. Da sinniert einer über die Sinnlosigkeit des Reisens, beobachtet dabei die Amplituden seiner eigenen Stimme und redet sich ein, dass er die Welt da draußen nicht brauche. Oder er vermittelt seine Alpträume, wenn der die Nacht als „kubischen Raum“ beschreibt.

Liberté d’action
Nurith Wagner Strauss
Mit Holzklötzen und Milchschäumer im Flügel: Das Ensemble Modern feiert das präparierte Klavier

An einer Stelle beschwört er einen „Moment des absoluten Neins“, eine wohl zeitweilig geteilte Gefühlslage des von Michaux durchgearbeiteten Nachkriegseuropas und der Gegenwart. Das Changieren zwischen Klang und Trauma in Bennents heller und druckvoller Stimme wird von Hermann Kretzschmar und Ueli Wiget, Mitgliedern des Ensemble Modern, am Flügel begleitet. Und zwar in wunderbarer Nachfolge von John Cages „präpariertem Klavier“: Da wird schon mal mit dem Milchschäumer in den Flügel gelangt.

Mit „Liberte d’action“ gelingt Goebbels bei seinem ersten Gastspiel in Wien seit zehn Jahren Erstaunliches: Er macht Parallelen in Stimmungen und Gefühlslagen sinnfällig, wo man sie nicht vermutet hätte, und schafft es, Michaux auf die Bühne und in die Gegenwart zu holen. Michaux’ Kunst, den mitunter brutalen Sinn seiner Texte, in der Form und Wiederholung gegen den Strich zu bürsten, fängt Bennent mit seiner Stimme und seiner Gestik jedenfalls besser ein als so manche philologische Einführung.