Szene aus „The Mother“
Nurith Wagner-Strauss
„The Mother“

Kein Lehrstück für das 21. Jahrhundert

Die New Yorker Wooster Group ist seit den 1970er Jahren einflussreich wie kaum eine andere Theatergruppe. Mit Bertolt Brechts Lehrstück „Die Mutter“ kehrt sie nach 1997 erstmals zu den Festwochen zurück. Trotz großartiger Bearbeitung von Hanns Eislers Liedern und des Einsatzes avancierter Spieltechnik blieb der Versuch, sich Brecht zu nähern, in der Premiere am Dienstag durchwachsen.

Es ist nicht schön mit anzusehen, wenn Helden straucheln. Und Helden sind die Mitglieder der Avantgarde-Truppe The Wooster Group im modernen Theater gewiss. Sie gelten als Vorreiter des postdramatischen Theaters und setzten Maßstäbe in der Verwendung von Videoprojektionen auf der Bühne. Das gefeierte deutsche Regietheater eines Frank Castorf und Rene Pollesch, die Arbeiten von Rimini Protokoll, sie alle sind maßgeblich von der Gruppe in Soho beeinflusst worden.

Vielleicht lag der misslungene Abend an den widrigen Umständen der Vorbereitung: Eigentlich hätte das Stück im letzten Jahr bei den Festwochen Premiere feiern sollen, die Pandemie hat das verhindert. Um die Produktion doch noch zu realisieren, musste die Wooster Group eine Kampagne auf der Crowdfunding Plattform Kickstarter initiieren. Der Premierenabend am Dienstag war der erste Auftritt der Gruppe seit eineinhalb Jahren, das eigene legendäre Haus – die Performing Garage im New Yorker Stadtteil Soho – wird erst im Herbst wieder eröffnen können.

Szene aus „The Mother“
Nurith Wagner-Strauss
Nach der Politisierung: Kate Valk wandelt sich schnell von der armen Hausfrau zur Revolutionärin

Der Lehrer als unzuverlässiger Erzähler

Den Zugang zum Stück bezeichnete Kate Valk, Darstellerin der Titelgebenden Mutterfigur Pelagea Wlassowa, im Vorabgespräch mit ORF.at als „sehr amerikanisch, mit Bezug zum Kino und zur Populärkultur“. Das äußerte sich auffallend in der Musik, die Amir ElSaffar für die Inszenierung auf Basis der Lieder Hans Eislers in Brechts Original komponiert hat, und die wie ein Jazzscore zu einem Film der 60er Jahre wirken. Die Musik rahmte die 75 Minuten dauernde Aufführung und hintertrieb die zugespitzten Dialoge oft wohltuend.

Ein wesentlicher Eingriff in die Dramaturgie des Stücks war auch die Lehrerfigur, die von Jim Fletcher gespielt wird. Er lehrt die ungebildeten Arbeiterfiguren im Stück lesen, diskutiert mit ihnen den Klassenkampf und wird zum Anhänger der resoluten Wlassowa. In der Version der Wooster Group fungiert er als Erzähler.

Ari Fliakos, der insgesamt sechs Rollen in der Inszenierung übernimmt, erklärte im Gespräch: „Der Lehrer ist eine Art unzuverlässiger Erzähler.“ Valk ergänzte: „Er untergräbt geradezu die Idee des Lehrstücks.“ Tatsächlich sorgte der Lehrer während der Vorstellung für heitere Momente: Er erklärte den Figuren die geraffte Handlung, wo Szenen übersprungen wurden und wies das Publikum auf Brechts Inkonsistenzen hin, als er zum Beispiel kommentierte: „Brecht wollte keine Emotionen in den Lehrstücken verwenden, dafür war das Lied das sie gerade gehört haben, aber sehr gefühlvoll, finden Sie nicht auch?“.

Jazz und Hollywood waren nicht genug

Schauspielerisch arbeiteten die Darstellerinnen und Darsteller, wie von der Wooster Group gewohnt, mit Doppelungen und Zitaten. So brach etwa Wassil, der Metzger, nachdem er in wenigen Worten von Wlassowa überredet wurde, von den Streikbrechern auf die Seite der streikenden russischen Arbeiter zu wechseln, in ein Freudentänzchen aus, das Mary Poppins alle Ehre gemacht hätte.

Szene aus „The Mother“
Nurith Wagner-Strauss
Jim Flechter als Lehrer und Erzähler war der große dramaturgische Einfall der Inszenierung

In den Gesten und Bewegungen verfügten die Darsteller über ein riesiges Repertoire, das Hollywood- und Broadway-Referenzen in Fülle hergab. Allerdings fehlte bei allem Anspielungsreichtum eine Möglichkeit, den in die Jahre gekommenen Ansatz Brechts, das – bestenfalls proletarische – Publikum möge durch die unemotionale Darstellung der Ungerechtigkeiten des Kapitalismus die richtigen Schlüsse ziehen und dem Kommunismus huldigen, aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts anzupacken.

Spiel mit Doppelungen

Noch die „Hamlet“ Inszenierung der Wooster Group galt 2006 als Meilenstein: Im Hintergrund lief als Video projiziert eine geschnittene Aufnahme der Broadway Inszenierung von Richard Burton aus dem Jahr 1964. Auf der Bühne verdoppelten die Schauspielerinnen und Schauspieler dieses geschnittene Video – inklusive detailgetreuen Bewegungen der Schnitte und der Verse.

Ein ähnliches Doppelungsspiel war im Kleinen auch in „The Mother“ angelegt: Teilweise kamen die Texte vom Tonbandgerät, die Darsteller doubelten ihre eigene Stimme, teils vorgespult mit groteskem Effekt. Nur produzierten diese Einlagen im besten Fall ironische Irritationen – aber keine Sinnebene, an der sich das Publikum bei aller Kurzweil entlanghanteln hätte können. Wer das Spiel mit Brecht, Hollywood und Jazzsoundtrack sehen möchte, kann das bis zum 17. Juni in noch insgesamt neun Vorstellungen tun.