Szene des türkischen Stücks „Sahibinden Kiralik“ („Vom Eigentümer zu mieten“) bei den Wiener Festwochen
Ilgin Erarslan Yanmaz
„Sahibinden Kiralik“

Zerbrochene Träume im Stricherpark

Von Männern, die ihren Körper verkaufen, handelt das türkische Stück „Sahibinden Kiralik“ („Vom Eigentümer zu mieten“) bei den Wiener Festwochen. Gnadenlos werden darin Dominanz- und Ausbeutungsverhältnisse offengelegt, die im Schatten der bürgerlichen Gesellschaft bestehen. Homophobie wird dabei ebenso thematisiert wie die ökonomische Aussichtslosigkeit derer ganz unten.

Die Glut einer Zigarette reicht aus, um die nächtlichen Freier anzulocken. Während das Wasser im Teich plätschert und die Grillen zirpen, geht es im Gebüsch zur Sache. Wer hat hier das Sagen: der alte Kerl mit dem Geld oder der Stricher, der seinen jugendlichen Körper zu Markte trägt?

Das Stück „Sahibinden Kiralik“ führt in einen städtischen Park, wo fünf Männer und eine Frau inmitten von Gewalt und Ausbeutung eine Exitstrategie herbeisehnen. Der Dramatiker Özen Yula macht die Ausgesetztheit seiner Protagonisten klar: „Ficken ist ein gefährliches Geschäft“, lässt er später ein Opfer dieser künstlichen Naturlandschaft sagen.

Szene des türkischen Stücks „Sahibinden Kiralik“ („Vom Eigentümer zu mieten“) bei den Wiener Festwochen
Ilgin Erarslan Yanmaz
Özen Yulas Stück kondensiert die in der Türkei weit verbreitete Homophobie auf eine minimale Szenerie

Lederjacke und Rasierklinge

Feuerzeug, Springmesser, Geld und Gebetskette: Alle diese Dinge liegen hosentaschenbereit auf einem Tisch. Das Regieduo Melis Tezkan und Okan Urun, das seit 2006 als Kollektiv namens biriken zusammenarbeitet, kommt bei seinem Bühnenbild mit einer Parkbank und zwei Bildschirmen aus. Einer der Screens zeigt vor jeder Szene, wie sich die Darsteller je ein Kleinrequisit holen.

Dabei lässt etwa der Griff nach einer Rasierklinge die Spannung steigen. Auf einem Kleiderständer im Hintergrund hängen Lederjacken als bevorzugtes Outfit beim „Cruising“ im Mondschein. Das auf Türkisch mit deutschen Übertiteln gespielte Drama besteht vor allem aus Dialogen, die nach und nach ein Geflecht aus Beziehungen und Abhängigkeiten bloßlegen.

Keiner hier will eine „Tunte“ sein. Die patriarchale Werte- und Hackordnung wird durch das nächtliche Treiben nicht außer Kraft gesetzt. Die Verachtung für Schwule bekunden auch diejenigen, die von Sex zwischen Männern leben. Wie weit die homophobe Verachtung in der Türkei reicht, demonstrierte ihr Präsident vor einem Jahr: Recep Tayyip Erdogan verteidigte damals die Behauptung eines konservativen Predigers, dass die „kranke“ Homosexualität und die Ehelosigkeit an dem Ausbruch der CoV-Pandemie schuld wären. Im Stück wird schnell klar, dass die auf der Parkbank wartenden Männer auch als Ventil für ein repressives, verlogenes System dienen.

Wahre Liebe als Ausweg

„Bist Du am Ende ein Sittenwächter?“, fragt das junge Mädchen ihren Zufallsbekannten. Mit Minirock und dem Buch „Lolita“ auf dem Schoß sendet die Schulschwänzerin eindeutige Signale aus. Simay (Zeynep Su Topal) möchte ihre Unschuld verlieren und wäre sogar bereit, dafür einen Callboy zu bezahlen. Warum sie das will – ob aus Neugierde, Rebellion oder Sehnsucht nach Intensität –, bleibt offen. Später wird sie in einem goldfarbenen Blouson zur einzigen Musikeinlage des Stücks tanzen. Der Nineties-Popsong „What Is Love“ stellt die zentrale Frage der Aufführung. Die flehentliche Bitte im Refrain „Oh Baby, don’t hurt me, don’t hurt me no more“ verhallt freilich unerhört.

Westliche Popkultur, sei das nun Vladimir Nabokovs Skandalroman oder der Film „Casablanca“, verwendet Dramatiker Yula als Projektionsfläche für Freiheitsfantasien. Gleichzeitig existiert aber auch die Sehnsucht nach einer kulturellen Heimat, für welche die „alten Lieder“ der Großmutter stehen. Wiederholt rufen die Figuren Bilder einer bürgerlichen Existenz auf: Anstatt im Park anzuschaffen, könnten sie als Bäcker arbeiten, die Schulbank drücken oder in einem Garten Rosen ziehen. Dann würde ihnen die soziale Scham erspart bleiben. Aber die Verlockung des schnellen Geldes und der sexuelle Kick erscheint größer. Einzig die Liebe, die Simay für ihren Beschützer Adnan (Okan Urun) empfindet, bricht aus dem Reigen bezahlter Leistungen aus.

Szene des türkischen Stücks „Sahibinden Kiralik“ („Vom Eigentümer zu mieten“) bei den Wiener Festwochen
Ilgin Erarslan Yanmaz
Im Park begegnet Simay (Zeynep Su Topal) ihrer großen Liebe, dem Stricher Adnan, der sich ihren Namen in die Haut ritzen wird

Monolog aus dem Grab

Die Regie verlässt sich über weite Strecken auf die schauspielerische Ausdruckskraft. Eher verwirrend wirken die eingespielten Videomonologe der Schauspielerin Meral Cetinkaya. Die 1945 geborene Darstellerin verkörpert darin offensichtlich die junge Simay im Alter, die in Rückblicken über ihre erste große Liebe philosophiert. Ihr Geliebter Adnan wurde verraten und ermordet. Die Gier nach Macht und Geld killt den einzigen Lichtblick wahrer Zuneigung: Dieses in Theater- und Filmgeschichte unendlich variierte Motiv gewinnt vor dem Hintergrund der zerrissenen türkischen Gesellschaft neue Relevanz. So eindringlich wie Adnan aus dem Grab heraus eine Rede hält, hätte es danach gar keiner Effekte mit Kunstblut und Stroboskoplicht bedurft.

Der Figur der Simay wird das Potenzial zugeschrieben, die Hackordnung der Männer auszuhebeln. Dass sie nicht nur aufgrund der Underdogs im Park scheitert, legt sie in ihrer Sichtweise der ehrbaren Gesellschaft dar. Diese sehe sich die täglichen Dramen der Großstadt, die Entführungen, Gewalttaten und Morde, voyeuristisch wie „vom Balkon eines Theaters aus“ an. Wenn die „Wildhunde“ die Schwächsten totbeißen, genießen die Bürger das Treiben aus sicherer Distanz. Armut, Verwahrlosung und Ohnmacht als individuelles Verschulden zu sehen ist die einfachste Immunisierungsstrategie gegen sozialen Wandel.

Frei von Obszönität

In der Türkei sei die Wahrnehmung, „immer an dem ausweglosen Punkt zu landen, egal, was passiert“, sehr verbreitet, stellen die Regisseure im Interview des Programmfolders fest. Der urbane Park symbolisiert eine Gefahrenzone, aber auch ein Potenzial für klandestine Selbstbestimmung. Mit ihrer über weite Strecken ruhigen, von Obszönitäten absehenden Inszenierung nehmen die Regisseure zwar einige Längen in Kauf, aber sie stellen Sexarbeit löblicherweise nicht als Spektakel dar. Am Ende schließt sich der Reigen, und das Feuer – nicht nur der Zigarette – flackert wieder auf.