Szene aus „Lavagem“
Renato Mangolin
„Lavagem“

Schaumparty trifft „Whitewashing“

Eine Performance, die ganz dem Waschen gewidmet ist: „Lavagem“ bringt sechs brasilianische Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne – und alles, was es für das Reinigen braucht, vom Kübel bis zum Putzfetzen. Choreografin Alice Ripoll geht es aber nicht allein um Hygiene, denn gewaschen werden mehr als bloß die Hände. Auch das Publikum bleibt nicht trocken – nach einem Jahr auf Abstand eine durchaus ungewöhnliche Erfahrung.

Wenn draußen die 30-Grad-Marke überschritten wird, werden die Wiener Festwochen oft zur Herausforderung: Statt großer Kunst sehnen sich viele eher nach dem kühlen Nass. „Lavagem“ – portugiesisch für „Waschen“ – ist damit ein Kompromiss, der in der frisch angebrochenen nächsten Hitzewoche gerade gelegen kommt.

Der Frachtenbahnhof zwischen Wien-Brigittenau und -Leopoldstadt, Heimat des Theaters brut nordwest, war am Montagabend Schauplatz der Österreich-Premiere der Tanzperformance von Ripolls Kollektiv Cia REC. Schon beim Betreten des Theatersaals wurde klar, dass gleich eine recht intime Erfahrung wartet: Die ebenerdige Bühne wurde von jeweils zwei Sitzreihen an jeder Seite umringt, ein bisschen Panoptikum, in dem sich das gesamte Geschehen hautnah verfolgen lässt. Wer Platz nimmt, nimmt gleichzeitig in Kauf, die nächsten 60 Minuten den Saal nicht unbemerkt verlassen zu können.

Große blaue Blüte aus wasserdichtem Plastik

Kaum geht das Licht im Saal aus, ist aus dem Off ein Rascheln zu hören, das an überdimensionale Sackerln aus Möbelhäusern erinnert und sich auch praktisch als solches herausstellt: In eine riesige blaue Plane gehüllt betreten die vier Tänzer und zwei Tänzerinnen gemeinsam die Bühne, wie Bienen aus einer Blüte verteilen sie sich darauf im Saal. Die Plane wird von den Tänzern lautstark auf den Boden geknallt, dazu wird geschrien – der Moment, an dem so manche Performance kippt.

Szene aus „Lavagem“
Renato Mangolin
Aus einer großen blauen Plane steigen die Tänzerinnen und Tänzer

„Lavagem“ entwickelt jedoch – langsam – einen gewissen Sog, die riesige Plane übernimmt dabei gleich mehrere Funktionen: Schlüpfen die Tänzer und Tänzerinnen darunter, kommen sie schweißgebadet wieder heraus – eine von vielen Arten der Nässe an diesem Abend. Später dient der blaue Stoff auch als Unterlage für die bis dahin pitschnassen Künstler.

Zwischen Händewaschen und Rassimuskritik

Und auch wenn 2020 ausgerechnet jenes Jahr war, das Waschen mit Hygiene gleichgesetzt hat, geht es der brasilianischen Choreografin wohl um mehr als um saubere Körper: Ihre Truppe spannt den Bogen vom sprichwörtlichen Reinwaschen zum wortwörtlichen „Whitewashing“, bei dem der weiße Seifenschaum die wahre Hautfarbe überdeckt.

Wirft man einen Blick auf den Hintergrund von Ripolls Truppe und gleichzeitig auf Brasiliens Politik, ist „Lavagem“ dann weit mehr als eine ausufernde Schaumparty: So sind die Tänzerinnen und Tänzer in den Favelas Rio de Janeiros aufgewachsen, das bewusste Ändern der Hautfarbe könnte auch als Kritik an Brasiliens ultrarechtem Präsidenten Jair Bolsonaro gelesen werden, vor allem die nicht weiße Bevölkerung zog zuletzt, auch weil sie ihm Rassismus vorwirft, auf die Straße. In der Ära Bolsonaros sei es „schwer, Politik nicht anzusprechen, selbst wenn man das nicht möchte“, sagte Ripoll im Gespräch mit Ö1.

Je mehr Seife ins Spiel kommt, desto glitschiger werden die Körper. Auf der Bühne verknoten sie sich zu komplizierten Figuren, immer wieder zwängt sich einer der Tänzer durch eine bewusst gelassene Öffnung und erinnert damit bildlich an Wiedergeburt, der ja auch eine gewisse reinigende Funktion zugeschrieben wird. Waschen kann also vieles bedeuten, daran lässt die brasilianische Choreografin Ripoll auch über sprachliche Grenzen hinweg keine Zweifel.

Auf ungewohnte Tuchfühlung mit den Tänzern

Aber auch die Pandemie lässt sich nicht restlos aus „Lavagem“ ausklammern, nicht zuletzt, weil die FFP2-Maske im Theater bei unangenehmen Außentemperaturen als ständige Erinnerung an die Situation dient. Und die Performance sucht die aktive Konfrontation mit dem Publikum. Das fängt beim direkten Augenkontakt mit den Tänzerinnen und Tänzer auf kürzeste Distanz an und erreicht ihren Höhepunkt, wenn dem Publikum zum Schluss der reinigende Schaum in die Hand gegeben wird.

Szene aus „Lavagem“
Renato Mangolin
Die Performance führt vom Tanzen zum Rutschen, je seifiger die Unterlage wird

Schon davor blieben Teile der ersten Reihen nicht komplett trocken, um Handy und Kleidung muss man sich aber freilich keine Sorgen machen. Dennoch fühlt sich das im Juni 2021 alles etwas ungewohnt an. Auf Tuchfühlung mit den Darstellern zu gehen ist – versucht man die maskenbedeckten Gesichter zu deuten – ganz offensichtlich nicht allen gleich angenehm.

Postapokalypse und ein bisschen Ratlosigkeit

Am stärksten wird die Performance zum Schluss, dann, wenn die Bühne in Schwarzlicht getaucht ist (durchaus ein Grund, weiße T-Shirts und Neon-Schuhe auszuführen) und der Schaum aus Gasmasken quillt. Plötzlich wirkt „Lavegem“ wie ein postapokalyptischer Alptraum, der sich nicht leicht deuten lässt. Auch sonst sorgt die Tanzaufführung streckenweise für Ratlosigkeit. Dass vier Seiten des Saals gleichzeitig bespielt werden müssen, hilft da leider nicht. Oft gehen die Bewegungen im Wirrwarr auf der Bühne unter, nicht immer ist klar, wo man gerade hinschauen soll.

Hinweis

„Lavagem“ ist im Rahmen der Festwochen noch von Dienstag bis Freitag täglich im brut nordwest in Wien-Brigittenau zu sehen.

Selbstreinigung to go

Am Ende konnten die sechs Tänzerinnen und Tänzer von Cia REC – einer von ihnen war nur einen Augenblick zuvor noch unter Schaum begraben – das Publikum dennoch überzeugen. Im intimen Rahmen fühlte man sich so nah an den Künstlern wie – zumindest – seit 2019 nicht mehr.

Und auch bei verhältnismäßig wenig Publikum gab es verhältnismäßig viel Applaus für die Österreich-Premiere – und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt einige Zuschauerinnen und Zuschauer vom Schaum selbst nasse Hände hatten. Das Bisschen Selbstreinigung zum Mitnehmen für zu Hause: Vielleicht nicht ganz, was Aristoteles mit Karthasis – der Seelenreinigung als Folge der Tragödie – gemeint hat, aber so oder so ein passendes Ende im Zeitalter der Handdesinfektion.