Matija Ferlin in „Sad Sam Matthäus“
Jelena Jankovia
„Sad Sam Matthäus“

Zwischen Vanitas und Familienaufstellung

Der kroatische Tänzer und Choreograf Matija Ferlin nähert sich Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ mit einer Performance, in der Familiengeschichte und die Frage nach dem Ende der körperlichen Belastungsfähigkeit verwoben werden. „Sad Sam Matthäus“ ist ab Freitag im Rahmen der Wiener Festwochen zu sehen.

Bachs „Matthäus-Passion“ klingt majestätisch und monumental. Meist wird das Werk als Oratorium aufgeführt, es gibt allerdings auch Unternehmungen, sich dem Werk choreografisch zu nähern, wie John Neumeier mit dem Hamburger Ballett im Jahr 1981 bewies.

Nun widmet sich der kroatische Tänzer und Choreograf Ferlin im Rahmen der Wiener Festwochen diesem Höhepunkt protestantischer Kirchenmusik. „Sad Sam Matthäus“ lautet der Titel der Performance, der an einen traurigen Mann denken lässt. Tatsächlich spielt Ferlin mit Mehrdeutigkeiten, denn schließlich handelt die „Matthäus-Passion“ von Trauer, Verlust und Verrat.

„Jetzt bin ich Matthäus“

Im Kroatischen heißt „Sad Sam“ jedoch „Jetzt bin ich“, und da Matija schließlich auch so viel wie Matthäus heißt, schließt der vielseitige Künstler hier an bisherige Arbeiten an bzw. führt seine Werkserie „Sad Sam“ fort, die er 2004 – nach dem Abschluss seines Tanzstudiums – startete. Seitdem fragt er sich in regelmäßigen Abständen und verschiedensten Performances, was Identität bedeutet und was es heißt, glücklich zu sein oder traurig, was Leid und Leidenschaft miteinander verbindet.

Zu Bachs knapp dreistündigem Oratorium entwickelte Ferlin ein präzises und vielschichtiges Bewegungsvokabular. In der Ausstattung seines Bruders Mauricio verbindet er die politische Geschichte Kroatiens mit jener seiner Familie und stellt diese in einen umfassenden kulturhistorischen Kontext. Zwischen Kleidern und allerlei Gegenständen, darunter Requisiten aus früheren Inszenierungen, hat Ferlin die Bühne als Familienmuseum, als Ausstellungsarchiv der eigenen Biografie eingerichtet.

Familienarchiv als Bühnenbild

„Hier handelt es sich um Artefakte der Familie, die Bühne versammelt private Erinnerungsstücke, Alltagsgegenstände“, so Ferlin im Gespräch mit ORF.at. Den Bühnenrand rahmt er mit einer Vielzahl winziger Figuren und schreibt jeder eine reale Person zu: So etwa wurde 1729, als die „Matthäus-Passion“ zum zweiten Mal aufgeführt wurde, Gasparo geboren. Gasparo war der Vater von Giovanni, der wiederum der Vater von Michele, welcher der Vater von Gregorio war, und so weiter und so fort bis hin zu Mario Michellino, Ferlins Vater.

Matija Ferlin in „Sad Sam Matthäus“
Jelena Jankovia
Familienaufstellung mit Requisiten der Ahnen: Ferlin befragt mit Bach seine Vorfahren

So fächert Ferlin Ahnengeschichte auf, für jede genannte Person wird eine kleine Figur aufgestellt, die wiederum mit der Matthäus-Passion in Verbindung gebracht wird. Das geht so lange, bis die Bühne von „Vorfahren“ eingegrenzt ist. Fast alle aber sind nicht mehr, und doch leben sie in ihren Nachkommen weiter, wie auch Bach in den Aufführungen immer wieder lebendig wird.

Ferlin kommentiert seine Bewegungen und Gesten verbal, teilweise über Lautsprecher eingespielt, teilweise live, immer vor dem musikalischen Hintergrund des Oratoriums, aufgenommen von Philippe Herreweghe und dem Collegium Vocale Gent. In den Erzählskizzen schildert Ferlin neben seiner Familiengeschichte Verluste und Begegnungen, Verletzungen und Beschädigungen. „Der Körper eines Tänzers hat schließlich sein Ablaufdatum, was nicht bedeutet, dass er aufhört zu tanzen“, so Ferlin.

Idee gegen Körper

Zum bekannten Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ erzählt er – am Boden liegend, Beine und Arme ineinander schlingend – von starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Der Körper des Tänzers wird stets an seine Grenzen gebracht, was häufig zu Überforderung führt. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“, lässt der Evangelist Matthäus seinen Jesus zu den Jüngern sprechen.

Matija Ferlin
Jelena Jankovia

Matija Ferlin arbeitet seit 2004 an seiner „Sad Sam“-Reihe. Nach „Sad Sam Revisited“ setzte er die Serie 2009 mit „Sad Sam Almost 6“ und 2012 mit „Sad Sam Lucky“ fort. „Sad Sam Matthäus“ ist von Freitag bis Sonntag im Jugendstiltheater am Steinhof zu sehen.

Schließlich ist die Verletzlichkeit der Physis eine zentrale Frage von Tänzern, aber auch Thema eines gesellschaftlichen und symbolischen Körpers, wie uns Covid-19 verdeutlichte. Der vieldeutige Titel „Sad Sam Matthäus“ spielt also nicht nur auf Matijas Tänzerkarriere an, er verweist auf die Leidensgeschichte Jesu Christi und lenkt den Blick auf ein abstraktes Ende; einer individuellen Karriere, eines Lebens, einer Idee.

Und auch Ferlin beklagt die Schmerzen, die sein Training immer wieder unterbrechen. Leid und Leidenschaft sind die Grundpfeiler einer Tänzerkarriere, er spricht von „suffering and passion“, die er mit Bachs „Matthäus-Passion“ verknüpft: „Was passiert also, wenn die Idee eines Stückes größer ist als die körperlichen Möglichkeiten des Darstellers?“, lautet Ferlins Schlüsselfrage.

Sein Zugang zu Bach ist aber auch voller Ironie, schlüpft er doch in verschiedene Rollen, kämpft gegen unsichtbare Feinde, ordnet dem Inventar neue Bedeutung zu, kurzum: Er reflektiert die Komplexität des Lebens, wenn auch stets mit Blick auf dessen Ende. Zusammen mit dem Dramaturgen Goran Fercec ist die Performance als Dialog gestaltet, „zwischen einem Menschen des 21. Jahrhunderts und einem Höhepunkt protestantischer Kirchenmusik, zwischen einem beanspruchten Körper und einem kanonischen Trauerritual, zwischen Individuum und Kultur“.

„Möglichkeiten ausloten“

Dementsprechend versteht sich Ferlins „Sad Sam Matthäus“ zugleich als theatrale Erkundung des Selbst sowie als Beitrag zum Diskurs über Identitätspolitik: „Es war mir ein Anliegen, mich diesen Themen außerhalb eines Rahmens zu nähern, in welchem das Leben darauf reduziert wird, ‚etwas‘ zu verwirklichen (Dinge, Ziele, Ambitionen) statt ‚jemanden‘ (einen Menschen mit Empathie, Liebe, Menschlichkeit).“

Dabei kommt Ferlin, der als Tänzer das letzte Mal vor zehn Jahren in Wien mit einem Teil von „Sad Sam“ bei ImPulsTanz gastierte, seine interdisziplinäre Arbeit als Choreograf für Tanz und Sprechtheater zugute: „Mein Zugang ist ein ziemlich freier, wichtig ist mir immer, die Möglichkeiten auszuloten. Ich bin quasi ein ‚Körperhelfer‘.“ In seiner Bach-Interpretation konfrontiert sich der knapp 40-jährige „Körperhelfer“ gekonnt mit der Frage nach den Grenzen und der Hinfälligkeit des Körpers sowie den Möglichkeiten des Theaters. „Sad Sam Matthäus“ ist eine gelungene Reflexion über Vanitas als Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit.