Szene aus dem Theaterstück
Nurith Wagner-Strauss
„Love“

Liebe und Mitgefühl in Zeiten der Not

Der britische Regie-Shootingstar Alexander Zeldin ist bekannt dafür, das prekäre Leben naturalistisch in Szene zu setzen. Am Donnerstag präsentierte er mit „Love“ den zweiten Teil seiner Trilogie „The Inequalities“ bei der Spätsommerausgabe der Wiener Festwochen. Für das beklemmende Sozialdrama über die Möglichkeit der Liebe gab es großen Applaus. Bis 8. September ist das Stück im Jugendstiltheater am Steinhof zu sehen.

Wie schon im ersten Teil („Faith, Hope and Charity“) der bejubelten kapitalismuskritischen Trilogie, der Anfang Juli vom Festwochenpublikum mit Begeisterung aufgenommen wurde, ist auch beim weiteren Teil „Love“ eine Gemeinschaftsküche zentraler Schauplatz. Hier treffen acht Menschen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten: ein junger Syrier, eine Frau aus dem Sudan, ein Mann mittleren Alters samt seiner betagten Mutter und eine junge Patchwork-Familie, die gerade eben eingezogen ist.

Temporär wohnen sie in einem nicht näher definierten heruntergekommenen Heim zusammen, sie teilen Küche, Bad und Klo. Bereits in den ersten Minuten wird klar, dass hier höchst unterschiedliche Vorstellungen von Hygiene herrschen und dass man einander öfter treffen wird, als einem lieb ist. Die Schlafzimmer in der Notunterkunft sind nämlich winzig, und die Obdachlosen können sich ihre Mitbewohner nicht aussuchen.

Szene aus dem Theaterstück
Nurith Wagner-Strauss
In Zeldins hochrealistischem Setting findet sich auch die hochschwangere Emma mit ihrer Familie ein

Im Zentrum dieser zusammengewürfelten Gemeinschaft steht Emma, sie ist hochschwanger und voller Hoffnung, dass sie und ihr Lebensgefährte Dean samt seinen beiden Kindern Paige und Jason bald wieder ein eigenes Dach über dem Kopf haben. Die stark steigenden Mietpreise haben zu ihrer Delogierung geführt, Dean ist arbeitslos und von den vielen zermürbenden Amtswegen erschöpft. Trotz aller Widrigkeiten, trotz der Aggressionen und der Verzweiflung bleibt Emma zuversichtlich und wird so zur Personifikation des Titels „Love“, zum Sinnbild für Solidarität.

Schmaler Grat zwischen Glück und Unglück

Wie schon im ersten Teil von „The Inequalities“ sind die Darstellerinnern und Darsteller ganz nah am Publikum dran und beispielen die ersten beiden Zuschauerreihen mit. Am äußersten Rand der Gesellschaft angesiedelt, zeigt das im Jahr 2016 am Londoner National Theatre uraufgeführte Stück, wie schmal die Grenze zwischen Glück und Unglück ist. Die Szenenabfolgen hat Zeldin mittels Schwarzblenden strukturiert, zwischendurch lässt der Sound ahnen, dass sich da etwas zusammenbraut.

Hinter dem schmutzigen Glas eines Fensters wehen Blätter eines Baumes im Wind. Sie lassen sich als Metapher für die hier gestrandeten Menschen lesen – denn auch diese scheinen den willkürlichen Stürmen des Schicksals ausgeliefert. Bei Zeldin machen sie das Beste daraus, bewahren Contenance und haben Respekt voreinander, auch wenn es offensichtlich mehr als schwerfällt.

„Are you allright?" als Schlüsselsatz

„Manche Wörter haben die richtige Schwingung. Nach diesen suche ich, nach Wörtern, die Resonanz bieten. Und die das Leben gestalten“, so Zeldin im Interview mit den Wiener Festwochen. Um diese fragile, hoch prekäre Gemeinschaft zu fassen, braucht es die richtige Sprache. Hier ist es die Frage „Are you allright?", die sich die Bewohnerinnen und Bewohner ständig stellen und allesamt positiv beantworten.

Szene aus dem Theaterstück
Nurith Wagner-Strauss
Alt und jung, mit und ohne migratischen Hintergrund: In „Love“ teilen ganz unterschiedliche Menschen ihr Schicksal

Dabei ist hier gar nichts „allright“: Die steigenden Miet- und Immobilienpreise haben ein basales menschliches Bedürfnis, nämlich ein Dach über dem Kopf zu haben, zum Luxusgut gemacht. Und auch wenn das Stück vor der Pandemie geschrieben wurde, schwingt diese als verschärfender Faktor sozialer Ungleichheit irgendwie mit: „Liebe in Zeiten der Krise“, lässt sich dieses Stück kurz zusammenfassen.

„I love you“ keine hohle Phrase

Zeldin erzählt in seiner naturalistischen Sozialstudie von Hunger und Elend, von den Tabus in Wohlstandsgesellschaften. Er erzählt davon, dass auch Mittelschichtsfamilien schneller als gedacht und „unverschuldet abstürzen“ können. In Echtzeit wird das Gemüse aus der Dose gekaut, weil frisches auf dem Sozialmarkt nicht zu kriegen war. „Wer wird uns helfen?“, fragt Emma ihren Mann, der auf dem Wohnungsamt vertröstet und auf dem Arbeitsamt gedemütigt wird.

Weil er am Tag der Delogierung nicht zum Termin erscheinen konnte, werden ihm weitere Sozialleistungen gestrichen. Dabei naht Weihnachten, das Fest des Friedens und der Liebe. Bei Zeldin ist „I love you“ keine hohle Phrase, sondern der Versuch, in dieser sozialen Katastrophe menschliche Würde zu wahren. Das ist wahrlich nicht einfach, etwa wenn die alte Zimmernachbarin Barbara Durchfall hat und es nicht mehr rechtzeitig auf das – ständig besetzte – Klo schafft.

Mitgefühl trotz Enge und Not

Dann konfrontiert Zeldin die Akteure und das Publikum mit einem Kackhaufen, den Sympathieträgerin Emma (wer sonst?) angewidert wegwischt. Das Mädchen Paige kontert die trostlose Situation: Sie steigt auf einen Sessel und probt ein Lied für das Krippenspiel. Sie wird einen Engel darstellen, und wer weiß, vielleicht passiert doch noch ein Weihnachtswunder.

Nach „Are you allright“ wird „I am so sorry“ schließlich zum zentralen Vokabel der Solidaritätsbezeugung. Denn in dieser Enge und Not, in diesem Kaleidoskop unterschiedlichster Vorstellungen von Zusammenleben erscheint es als geradezu größte Leistung, Mitgefühl und Verständnis füreinander zu wahren. Trotz dramaturgischer Längen gab es bei der Premiere für den anwesenden Regisseur wie auch für das großartige Ensemble viel Applaus.