Szene aus „Der Teich“
Estelle Hanania
„Der Teich“

Die Leiden des jungen Fritz im Neonlicht

Mit „L´Etang/Der Teich“ bringt die franko-österreichische Choreografin und Regisseurin Gisele Vienne ein nur wenig bekanntes Jugendfragment Robert Walsers zu den Wiener Festwochen. Unter ihrer Regie wird aus den wenigen Seiten ein intensiver Abend über Adoleszenz und Machtmissbrauch, der Walser eine bedrückende Aktualität abringt.

Der Schweitzer Walser, dessen Werk um Machtverhältnisse und soziale Stellung kreiste, wurde von Zeitgenossen wie Franz Kafka, Robert Musil und Hermann Hesse gepriesen. Seine Erzählungen und Romane rund um die Leiden von Diener- und Angestelltenfiguren sind zutiefst treffende Analysen der Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg. Diesen für seinen Stil immer noch bewunderten Autor zeitgeistig auf die Bühne zu bringen, ist dennoch kein leichtes Unterfangen.

Dass die Festwochen Viennes Regiearbeit im Jugendstiltheater am Steinhof zeigen, unterstrich am Mittwochabend noch diese Spannung zwischen Ornamentkunst und minimalistisch weißem Bühnenbild. Vienne, die unter anderem an der Puppenspielakademie Ecole Superieure Nationale des Arts de la Marionnette studierte, lässt den Abend mit einem Sinnbild beginnen.

Zwischen „Frühlingserwachen“ und Rave

Ein unordentliches Jugendzimmer, eine Tablettenschachtel und ein Aschenbecher am Boden, ein CD-Player mit lauter – schließlich über die Saaltechnik eingespielter und viel zu lauter – Ravemusik, drapiert in dieser Szenerie sechs Puppen, die wie Entschlafene Jugendliche aussehen. Schon hier wird klar, dass „Der Teich“ in einem hybriden Raum irgendwo zwischen Wedekinds „Frühlingserwachen“ und postmoderner Jugendlicher Verzweiflung operiert.

Veranstaltungshinweis

„L’Etang/Der Teich“ ist noch am 27. und 28. Mai 2022 jeweils um 20.30 Uhr im Jugendstiltheater am Steinhof zu sehen.

Die Puppen werden herausgetragen und werden den ganzen Abend nicht wieder vorkommen – aber dieses kleine Tableau gibt doch eine erste Interpretationsrichtung für die komplexe und bemerkenswerte Darstellungsleistung von Adele Haenel und Henrietta Wallberg vor, die alsbald in Zeitlupe auf der Bühne erscheinen. Denn wie Puppen, wird wohl jede Rolle an unsichtbaren Schnüren von einer unsichtbaren Hand geführt – eine Gesellschaftsform, die nur sehr begrenzte Handlungsspielräume festlegt, wird da sehr subtil miterzählt.

Szene aus „Der Teich“
Jean Louis Fernandez
Verdichtete Gewaltbeziehungen – alle zehn Rollen werden Adele Haenel und Henrietta Wallberg dargestellt.

„Der Teich“ ist ein szenisches, wenige Seiten umfassendes Fragment, das Walser für seine Schwester schrieb. Als einzige Arbeit Walsers im Dialekt verfasst und erst lange nach dessen Tod publiziert, ist es sicherlich mehr ein intimes Zeugnis geteilten Leids während der Kindheit und Jugend als ein durchkomponiertes Werk. Gerade durch eine mehrfache Übersetzung – vom Dialekt ins Gegenwartsfranzösisch, für das Publikum dann wieder in knappe deutsche und englische Übertitel und von 1902 ins Heute – filtert die Inszenierung die emotionale Kraft, die in Walsers Skizze steckt.

In sechs Szenen konfrontieren sich jeweils die Lebenswelten der Jugendlichen, allen voran Fritz und seinen Geschwistern Klara und Paul sowie mehrerer Eltern, wobei Haenel (die etwa in Celine Sciammas feministischem Historienfilm „Portrait einer jungen Frau in Flammen“ ihr Können unter Beweis stellte) alle jugendlichen Figuren spielt und Wallberg alle Erwachsenen verkörpert. Fritz, der so gleichzeitig von innerhalb des Körpers der Darstellerin als auch außen angegriffen wird – adoleszente Hänseleien, die auch schon mal handgreiflich werden hier, elterliche Zurechtweisung da – täuscht schließlich seinen Selbstmord vor, um von der Umgebung bestätigt zu bekommen, dass seine Existenz ihr etwas bedeutet.

Bitte fühlen Sie sich jetzt betreten!

Im Mittelpunkt stehen Gewaltbeziehungen, die zwischen den Körpern und Sätzen teils ausagiert, großteils aber angedeutet werden. Nahezu jede Interaktion mit Erwachsenen scheint für Fritz, der nach Liebe und Geborgenheit lechzt, in eine inzestuöse oder anders missbräuchliche Verstrickung zu münden.

Unterbrochen werden die Szenen von kleinen Zwischenspielen, in denen die innere Zerrüttung der Figuren mit Neonlicht und lauter elektronischer Musik wieder und wieder deutlich gemacht werden muss. Dieser inzwischen fast schon zum Manierismus verkommene Regietrick ist der einzige große Makel des Theaterabends.

Szene aus „Der Teich“
Jean Louis Fernandez
Henrietta Wallberg überzeugte mit und ohne Neonlicht

Zuletzt sah man bei den Festwochen bei „Una imagen interior“, wie schal die Kombination aus grellem Licht und über lauter Musik werden kann, ist doch ihre Funktion eine Entmündigung des Publikums: „Bitte fühlen Sie sich jetzt betreten!“ schreit eine solche Soundspur, „Diese Figur leidet fürchterlich!“ blendet das Licht. Diese Überdeutlichkeit hätte es bei dem Können und der Raffinesse der Darstellerinnen nicht gebraucht. Dem Publikum gefiel es aber auch so, der lange Applaus mündete am Mittwoch in Jubelrufe und Standing Ovations.