Attersee vom Komponiershäuschen von Gustav Mahler aus gesehen
heid/ORF.at
Mahler trifft Kabeláč

Der Tragische und der Philosoph

Mahler und Kabeláč sind am Donnerstag auf dem Programm des Grafenegg-Festivals mit Gästen von „nebenan“ gestanden: Die Tschechische Philharmonie gastierte mit ihrem Musikdirektor und Chefdirigenten Semyon Bychkov. Dabei erklang neben der monumental-tragischen Fünften Symphonie von Gustav Mahler auch das „Mysterium der Zeit“ von 1957 – eine Passacaglia für großes Orchester – des Prager Musikerphilosophen Miloslav Kabeláč. Es wurde zu einem musikalischen Triumph.

Eröffnet wurde der Abend mit dem über die tschechischen Grenzen hinaus weitgehend unbekannten Komponisten Kabeláč (1908–1979), in dem sich auch das Schicksal seiner Heimat spiegelt: Zu Beginn seiner musikalischen Karriere waren es die Nationalsozialisten, die seiner künstlerischen Entwicklung im Weg standen.

Später sollte ihn das Korsett der auf Parteilinie achtenden kommunistischen Kulturpolitik einengen. Damit war im Grunde keiner seines Schaffensphasen künstlerische Freiheit gegönnt. Schmerzhaft empfand er damit wohl auch dass Mysterium der Zeit, mit seinem Komponieren zum falschen Zeitpunkt an den falschen Ort gebunden zu sein.

Das hinderte ihn jedoch nicht, neben der Folklore seiner Heimat auch Einflüsse aus der außereuropäischen Musik – etwa Elemente aus der indischen und der japanischen Musik und Anregungen aus den polynesischen Kulturgebieten – in seinen acht Symphonien wie auch seinen sonstigen Orchesterwerken. Trotzdem hat Kabeláč die Tonalität nie ganz aufgegeben.

Er arbeitet mit sehr sparsamer Melodik, nutzt vor allem Sekund-Schritte bzw. kleine Terzen. Die Aufführung seines anspruchsvollen Orchesterwerks „Mysterium der Zeit“ bot in Grafenegg eine der seltenen Gelegenheiten, ihn auch hierzulande „aus erster Hand“ zu hören und entdecken zu können.

„Ein verfluchtes Werk“

Mahlers Fünfte Symphonie zählt heute hingegen weltweit zum klassischen Orchesterwerk der Musikliteratur und gilt für seine Interpreten als Prüfstein jeglicher Art. Als ein „verfluchtes Werk“, das „niemand capiert“, hat Mahler selbst die Fünfte anlässlich einer von ihm geleiteten Aufführung der Symphonie in Hamburg bezeichnet.

Semyon Bychkov beim Dirigireren
Chris Christodoulou
Orchesterchef Semyon Bychkov leitet die Tschechische Philharmonie bei ihrem Gastspiel in Grafenegg

Seit ihrer Uraufführung in Köln am 18. Oktober 1904 gilt diese der neun Symphonien als eines der rätselhaftesten Orchesterwerke Mahlers. In der zumeist fünfviertelstündigen Dauer wird auch dem Zuhörer emotional einiges abverlangt, durchschreitet diese Musik den gesamten Kosmos menschlicher Empfindungen – über fundamentale Erschütterungen und Abgründe bis zu zehrenden Sehnsüchten und lodernden Leidenschaften.

Diese klingen bereits in den von Mahler selbst gewählten Satzbezeichnungen (Trauermarsch in gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt – Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz. – Scherzo. Kräftig, nicht zu schnell – Adagietto. Sehr langsam – Rondo-Finale. Allegro – Allegro giocoso) an.

Eröffnet wird die 1. Abteilung – so Mahlers Einteilung – mit einer von der Trompete verhalten intonierten Fanfare. Militärische Assoziationen sind hier beabsichtigt. Die Düsternis dieses Stirnsatzes lässt vergessen, dass Mahler mit den Arbeiten an dieser Symphonie im idyllischen Maiernigg hoch über dem Wörthersee begonnen hat. Hier hatte er nicht nur ein großes Arbeits- und Schlafzimmer, sondern auch einen herrlichen Blick über den See.

Das hielt ihn nicht ab, musikalisch ins sinistre Reich des Leides und der Schmerzen abzutauchen. Diese Haltung steht übrigens in krassem Widerspruch zu seinem Verhalten bei körperlichen Schmerzen. Ein heiter-komisches Beispiel überliefert uns Alma Mahler. Als Mahler einmal an Zahnschmerzen laborierte, wusste er nicht genau, welcher Zahn ihm wehtue. Alma Mahler, die rasch den für den Schmerz verantwortlichen Zahn lokalisieren konnte, begleitete ihn zum Zahnarzt: „Ich blieb im Wartezimmer des Zahnarztes, das sehr voll war. Plötzlich riss Mahler die Türe auf und rief: ,Du, Alma, welcher Zahn tut mir eigentlich weh?’“

„Liebeserklärung an Alma“

Vielen Musikliebhabern gilt vor allem das rund elfminütige Adagietto als heilig. Es ist ihnen auch Erkennungsmerkmal und eindrucksvollster Ruhepol. Mahler war sich schon seit der Entstehung dieses fragilen und nur auf Streicher- und Harfenklängen aufbauenden Symphoniensatzes der Wirkung bewusst. Wie wir aus einem Partitureintrag von Mahlers Freund, dem Dirigenten Willem Mengelberg, wissen, verstand der Komponist diese Klänge gleichsam als musikalische Huldigung an Alma: „Dieses Adagietto war eine Liebeserklärung an Alma! Statt eines Briefes sandte er ihr dieses im Manuskript: Weiter kein Wort dazu. Sie hat es verstanden und schrieb ihm, er solle kommen!!! Beide haben mir dies erzählt.“

„Ich liebe am Manne nur die Leistung“

Derartige Liebesbezeugungen erwartete seine Muse, Geliebte und spätere Gattin freilich von all ihren Verehrern und Ehemännern. Unter ihnen finden sich so illustre und konträre Persönlichkeiten wie der Maler Oskar Kokoschka, der deutsche Architekt und Gründer des Bauhauses, Walter Gropius, und zuletzt der Schriftsteller Franz Werfel. In ihren Erinnerungen bekennt die ob ihrer Selbstinszenierungen berühmte wie berüchtigte Alma: „Ich liebe am Manne nur die Leistung. Je größer die Leistung, desto mehr muß ich ihn lieben. (…) Darauf er lächelnd: ‚Na, einstweilen bin ich unbesorgt. Ich weiß keinen, der mehr ist als ich.‘“

Dass Luchino Visconti Mahlers Adagietto für seinen Film „Tod in Venedig“ (1971) bemühte, vermag die Sogwirkung dieser Musik auch heute nicht zu schmälern.

„Die, die untertreiben, interessieren mich nicht“

Mahler kehrt mit dieser Symphonie zur reinen orchestralen Sprache zurück, nachdem er in der 2., 3. und 4. Symphonie noch Gesangssolisten und Chormassen aufbot, um seinen nonverbalen Botschaften klangintensiv wie effektvoll Nachdruck zu verleihen. Mahler wird hier aber auch ohne die Kraft der menschlichen Stimme dem Ruf eines phänomenalen „Übertreibungskünstlers der Musik“ gerecht. Gemäß seinem Credo: „Ich liebe nur die Menschen, die übertreiben. Die, die untertreiben, interessieren mich nicht.“