Wolkenturm von außen
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Auftakt der Gergijew-Festspiele

Abendsternstunde mit Schostakowitsch

Manche Sternstunden dauern nur eine halbe. Und das genügt schon wegen des Gehalts. Dmitri Schostakowitschs erstes Cellokonzert stand am Freitag zum Auftakt der zweitägigen Gergijew-Festspiele in Grafenegg auf dem Programm. Die Münchner Philharmoniker und der prämierte Nachwuchsstar Gautier Capucon verwandelten das Freiluftauditorium in einen Kammermusiksaal. Um diesen dann unter der Führung Waleri Gergijews zu sprengen.

Ein Freiluftkonzert am Ende eines durchaus unterkühlten Sommers 2021 zu veranstalten ist ein kühnes Unterfangen. Man könnte auch sagen: eine Wahnsinnstat. Nicht zuletzt, wenn man sich Schlüsselwerke der Musikgeschichte vornimmt wie Schostakowitschs erstes Cellokonzert op. 107, das schon bei der Besetzung Bestaufstellung verlangt. Und das von seiner Bauart Strecken für einen Kammerkonzertsaal aufweist – und dann wegen der kaskadenartigen Orchestereinsätze nach dem großen Klangraum schreit.

Wie aber umgehen mit einem Setting, das eben noch in der Nachmittagswärme badete – und rasch in einen kühlen Abend umschlug? Hätte man das Cello selbst gefragt, es hätte wohl allen den Vogel gezeigt, bei diesen Bedingungen überhaupt antreten zu müssen. Und dennoch: Sehr schnell erreichte dieser Abend die Aura des Besonderen – und das Cello Betriebstemperatur.

Hinweis

Waleri Gergijew und die Münchner Philharmoniker treten am Samstag, 19.00 Uhr, noch einmal im Wolkenturm auf. Auf dem Programm: Tschaikowski und Bruckner. Mit dabei der Violinist Leonidas Kavakos.

Capucon, der mittlerweile schon oft premierte Jungstar, muss ja gleich mit einer Solopartie in den ersten Satz dieses Konzerts einsteigen. Er tat das präzise, aber nicht zu elegisch; fast könnte man sagen: knarzig. Er würde seinem Instrument alles abverlangen müssen und abverlangen wollen. Das ist ganz im Sinne dieses Werks, das ja nach dem Ende der Herrschaft Stalins geschrieben wurde – und von der Nervenanspannung des Komponisten ebenso erzählt wie von seinem großen und tiefen Aufatmen.

Gespannte Erwartung

Eine tiefe Intimität stand am Beginn dieses Abends, der zwischen den Monumentaleinsätzen des Orchesters eine derartige Stille einer Kammermusikveranstaltung atmete, dass man fast die Kastanienblätter hätte fallen hören können. Das mitunter unruhige Auditorium in Grafenegg, es war an diesem Freitag in gespannter Erwartung.

Münchner Philharmoniker auf der Bühne des Wolkenturms
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Ein gefeierter Gautier Capucon inmitten der Münchner Philharmoniker unter Waleri Gergijew

Capucon demonstrierte an seinem Cello so etwas wie die Materialität der Klangerzeugung. Als würde die Kühle des Abends manchen Ton einfrieren, so exakt kam seine Interpretation rüber, sprangen die Flageoletts in den Raum. Im Wechselspiel mit dem Orchester wurde die ungemeine Dimension dieses Stücks Musikgeschichte greifbar, berührt es doch alle Strömungen der Zeit, bis hin zum Ragtime.

Schostakowitsch ist immer auf der Hut

Ein Abschnitt des ersten Satzes war einst die Signation des ORF-Weltjournals – ein Wagnis, könnte man meinen. Doch es wäre nicht Schostakowitsch, wenn er uns nicht immer auch bei der Hand nähme, vom Bruch hin zur Harmonie führte. Sobald es freilich zu heimelig wird (auch bei Erinnerung an russische Volkslieder), biegt der Komponist wieder ab. Dieser Mann hatte gelernt, allen Sicherheiten zu misstrauen – und seine Musik entstammt einer Seele, die immer auf der Hut sein musste.

So pulsiert dieses Stück, verschnauft, bricht wieder auf. Greift vom Kleinen zu den ganz großen Gesten. Und damit hat es all das, was Gergijew liebt und wofür er den großartigen Klangkörper der Münchner Philharmoniker mit Vehemenz zu nutzen weiß. Sein Dirigat ist temporeich, nie pathetisch. Und es ist eine Führung des Klanges und der orchestralen Klangarchitektur. Unruhig flattern seine Hände immer nach allen Einsätzen, als müsste er sich wie ein Vogel über den Bau erheben. Bei Johannes Brahms wird er das im zweiten Teil des Abends ebenso eindrucksvoll demonstrieren. Leider, so muss man abseits aller Richtungsdebatten zum 19. Jahrhundert feststellen, ist Brahms, so auch in seiner ersten Symphonie op. 68, nie Zuchtmeister seiner Ideen: Alles verliert sich im Pandemonium seiner ewigen Beethoven-Überwindung – und fühlt sich dann doch wie ein Fortsetzungsgedanke zu dessen Neunter an.

Gergijew und Capucon

Die Einspielungen von Gergijew und Capucon der Cellokonzerte von Schostakowitsch liegen auch bei Erato vor – als CD oder digital.

Aber das störte an diesem Freitag nicht. Fast brauchte man Brahms zum Ausklang für die erste halbe Stunde, die man an diesem Abend erlebt hatte. Capucon, der an diesem Tag auch noch seinen 40. Geburtstag feierte, beschenkte sich und das Publikum am allermeisten. Nach einem Happy-Birthday-Ständchen der Philharmoniker gab er mit den Cellisten noch eine Zugabe mit einem Schostakowitsch-Präludium. Auch hier durfte man staunen, wieviel Intimität in einem offenen Auditorium an einem immer kühler werdenden Abend möglich war. Im Hintergrund stimmten sogar die Singvögel in die Darbietung mit ein. Sie freilich fielen harmonisch etwas hinter Schostakowitsch zurück.