„Wir leben in einer neuen Welt, in der alte Selbstverständlichkeiten nicht mehr tragen“ – das sagt der auch schon an den Locken leicht grauer werdende belgische Choreograf Wim Vandekeybus im Vorfeld zum heurigen ImPulsTanz-Programm.
Tatsächlich wirkt das heurige Programm von ImPulsTanz-Chef Karl Regensburger und seinem Team wie eine Form der Orientierungssuche in einer Welt, in der tatsächlich der Kunst wieder eine neue Rolle zukommen kann. Und diese Rolle der Kunst ist weniger elitär als elementar. Das Tanz- und Performancetheater, es will wieder zurück an die Wurzeln unser Kultur, unserer Konflikte – und will auch über die Grundfragen von Kunst die Konflikte unserer Gegenwart spüren. „Mir geht es immer noch um das Konzept von Harmonie“, sagt etwa die große belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker im Gespräch mit ORF.at rund um ihre nun in Wien gezeigte Arbeit „Mystery Sonatas“: „Wenn ich Harmonie sage, dann meine ich nicht, dass es um Schönheit geht, sondern es geht um den Zusammenhang und Zusammenhalt der Dinge. Und dieser Zusammenhalt funktioniert nicht mit Ausschlussverfahren, dass man alles, was anders ist, wegblendet.“
Sie spreche sich für eine neue Achtsamkeit aus, nicht zuletzt eine des Menschen gegenüber seiner Umwelt, so die Choreografin, die bald auf eine 40-jährige Arbeitsgeschichte in Wien seit dem ersten Auftritt der Rosas 1984 zurückblickt. „In der Pandemie haben wir gelernt, dass wir die Welt nur noch durch einen Filter erlebt haben und uns beinahe der Atem genommen wurde“, so De Keersmaeker zu Erfahrungen der letzten Jahre.
Die Rolle der Schönheit und der Ort des Menschen
Dass Schönheit immer noch eine Rolle spielt in der Ausdeutung der Gegenwart, das sollte sich bei der Eröffnung des heurigen ImPulsTanz-Festivals mit dem Stück „Vollmond“ von Pina Bausch aus dem Jahr 2006 zeigen, das das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch im Burgtheater als österreichische Erstaufführung präsentieren wird.
Dass Tanztheater nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf den Screens stattfindet, sollte die Produktion „Mist“ zeigen, die die dritte Kollaboration von Damien Jalet mit dem japanischen Künstler Kohei Nawa darstellt. Die beiden haben sich diesmal mit dem iranischen Filmemacher Rahi Rezvani zusammengetan und tauchen mit Nederlands Dans Theater in eine rauschhaft schöne Bildwelt ab, die fast so etwas wie die Geschichte der Menschheit erzählt – zu sehen diesmal im Österreichischen Filmmuseum.
Themen stehen im Vordergrund
Dass bei ImPulsTanz eine Reihe großer, in Wien gut bekannter Namen ihr Programm vorstellen, muss man gar nicht extra erwähnen. Einmal mehr gibt es wieder einen starken Flandern-Schwerpunkt: Neben De Keersmaeker ist Jan Lauwers mit der Needcompany präsent – und Dauergast Vandekeybus. Der notorische Wien-Bespieler feiert hier das 35-jährige Bestehen seiner Ultima-Vez-Compagnie, huldigt dann noch dem verstorbenen Festivalmitgründer Ismael Ivo – und unterrichtet auch noch Klassen. Es ist das Programm und gerade die Erkundung des Nicht-mehr-Selbstverständlichen, das dieses Festival ausmachen wird – und sehr viel mehr als Eingeweihte einladen kann, was die Verunsicherungen der letzten Jahre mit uns gemacht haben.
Das Programm im Remix, Teil 1
„Notwendigkeit eines neuen Zusammenhalts“
Die an Pina Bausch geschulte Südafrikanerin Dada Masilo wird mit ihrer Dance Factory im Rahmen der Performance „The Sacrifice“ gerade das Moment der Identitätsbildung aus dem Motiv des Rituals ableiten. „Sprachen“, erzählt sie, „sind in Südafrika ein Medley, weil es einfach so viele gibt. Aber es gibt darunter die Sprache des Rituals, die einem zumindest helfen kann, sein eigenes Erbe zu reflektieren.“ Sie wiederholt im Rahmen einer Pressekonferenz, was andere auch sagen: Die Pandemie habe die Notwendigkeit eines neuen Zusammenhalts gestärkt. Aber, so auch der Hinweis, dieser könne nur funktionieren, wenn alle Menschen ihre jeweilige Identität anerkennen würden.
Der eigene Kanon wird neu perspektiviert
So werden viele Performances genau den Kanon der eigenen Kultur hinterfragen. Auch indem man sich hinauswagt, wie etwa Vandekeybus mit seiner neuen Arbeit zum 4.000 Jahre alten Hymnus der sumerischen Göttin Inanna, um die verschiedenen Zustände der eigenen Geschichte zu erzählen. „Hands do not touch your precious me“ heißt das Werk, das sich der Zusammenarbeit mit dem französischen Künstler Olivier de Sagazan verdankt, der Vandekeybus mit dem Prinzip der archaischen Transformation und dem Arbeiten mit flammenden Köpfen und alten Masken bekannt gemacht hat.
Erneut wird Vandekeybus Teil der Performance sein. Das aus einem einfachen Grund, wie er mit einem Verweis auf Hannah Arendt argumentiert: „Es ist unmöglich, die eigene Geschichte zu erzählen, das können nur die Leute, die dir nahe stehen.“ Aber diesem Ergründen der eigenen Geschichte wolle er sich wie ein Erzähler auf der Bühne stellen.
Mowgli wird zum Mädchen mit neuem Auftrag
Dass man die klassische Erzählung auf neue Beine stellen muss, dass will die Kompanie von Akram Khan beweisen. Mit dem „Jungle Book reimagined“ wird die koloniale Geschichte dieses Klassikers von Rudyard Kippling abgestreift. Das „Dschungelbuch“ spielt nicht mehr in einer verklärten Vergangenheit, sondern in einer Zukunftslandschaft, die schon alleine vom Klimawandel komplett entstellt erscheint.
Das Programm im Remix, Teil 2
Mowgli ist nicht mehr ein Bub, sondern genau das junge Mädchen, das er am Ende seiner Reise in der Ursprungserzählung kennengelernt hat. Die Heldin Mowgli muss sich ganz neuen Herausforderungen und der Bedrohung jener Welt gerade rund um sich stellen. Poetisch und dezidiert poetisch ist diese Performance angelegt, mit der sich das Festival im Rahmen einer zusätzlichen Nachmittagsperformance auch an ein junges Publikum wenden will.
Lernen von den Alten
Eine der eindringlichsten Performances des Festivals könnte im Museum für Moderne Kunst zu erleben sein. Die ungarisch-rumänische Performerin Boglarka Börcsök stellt sich in „Figuring Age“ dem, wie sie sagt, „Wissen des alten Körpers“. Börcsök hat für dieses Projekt über 90-jährige Ausdruckstänzerinnen aus Ungarn aufgespürt, die die Körperwahrnehmung in Ungarn geprägt haben. Noch einmal dokumentierte sie auf Film deren Möglichkeiten, sich im hohen Alter zu bewegen. Zu den aufgenommenen Videosequenzen wird die Künstlerin die Geschichten der Frauen noch einmal als Reenactment nacherleben – ein Vorgang, den sie selbst schon in der Aneignung als gespenstisch, aber in einem positiven Sinne, beschreibt. Das Wissen dieser Frauen, so der Hintergrund ihrer Arbeit, möge an eine neue Generation, gerade auch über die Grenzen politischer Differenzen hinaus, weitergegeben werden.
Was die Schichten anlangt, setzt das Festival vom 7. Juli bis zum 7. August auf eine komplette Breite: die klassischen Performancebesucher, die Jungen, die man mit einer eigenen „Festival Lounge“ (gemeinsam mit FM4) ansprechen will. Und alle, die in der Stadt leben, mit dem Programm „Public Moves“, das hinaus bis in die Donaustadt geht.
ORF.at begleitet das Festival mit einem eigenen Sonderkanal. Schwerpunkte zum Festival wird es auch auf FM4 und in ORF III geben.