De Keersmaeker im Interview

„Plötzlich waren die Ärzte die Choreografen“

„Die Pandemie hat die Wahrnehmung von uns selbst und der Welt verändert.“ Das sagt die flämische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker im Interview mit ORF.at. Beim ImPulsTanz zeigt sie ihr Werk „Mystery Sonatas“, das auf den Sonaten des bömischen Barockkomponisten Heinrich Ignaz Franz Biber aus dem 17. Jahrhundert beruht. Viele der klassischen Konzepte kämen gerade unter Druck, sagt De Keersmaeker. Auch ihre eigene Arbeit: „In der Pandemie waren plötzlich die Ärzte die Choreografen unserer Körper.“

Mit sechs getanzten Sonaten aus dem 17. Jahrhundert und der Musik der Geigerin Amandine Beyer und ihrem Ensemble Gli Incogniti reisen Rosas, die sich diesmal als Tribut vor allen großen Rosas dieser Welt nur Rosa nennen, an. Es ist eine Koproduktion mit der Oper La Monnaie aus Brüssel, mit der dieses Stück realisiert wurde, das an De Keersmaekers mittlerweile legendäre Arbeiten zu Bach, etwa den „Goldbergvariationen“, anschließt, ja die Formensprache der Musik noch in eine frühere Zeit verfolgt. Denn mit der Musik von Biber und seinen „Rosenkranzsonaten“ ist man im 17. Jahrhundert unterwegs.

Hinweis:

Die „Mystery Sonatas“ sind im Volkstheater am 12., 13., 14. und 15. Juli zu sehen.

„Es gibt Werke, die die Grenzen dessen, was man auf einem Instrument machen kann, verschieben: Bachs ‚Partiten‘, Liszts ‚Etudes d’Execution Transcendante‘ und auch Bibers ‚Mystery Sonatas’“, sagt De Keersmaeker zu diesem Werk.

Wie sind Sie auf die Musik von Biber gestoßen und was fasziniert Sie an den „Rosenkranzsonaten“?

Eigentlich bin ich eher zufällig auf eine Aufnahme gestoßen, und mich hat die sehr einnehmende Violinenmusik neugierig gemacht. Und diese Stücke haben eine sehr interessante Struktur. Es ist religiöse Musik, doch es ist nicht die Religion, die mich anspricht, aber die spirituelle Natur dieser Musik, die zugleich eine direkte Einladung zum Tanz ist. Und diese Musik ist so notiert, dass sie den Musiker – und am Ende auch uns als Tänzer – dazu anhält, den Ausdruck zu forcieren. Das, mit der klaren Gliederung der Arten von Stücken, ist eine sehr interessante Bauart. Und mit Amandine Beyer ist jemand hier, die die Musik auf eine sehr schöne und interessante Art übersetzt.

Hat die Pandemie unsere Wahrnehmung auf die Welt verändert?

Ich denke, dass eine Vielzahl von Konzepten zur Zeit unter Druck gekommen sind. Ich traue mich, sie zu benennen. Die Vorstellung von Harmonie etwa. Harmonie schließt Unterschiede nicht aus, sondern meint Zusammenhalt. Und im eigentlichen Sinn meint Harmonie das, was zusammen funktioniert. Wie man eine Tür öffnet oder seine Schulter bewegt, das ist Harmonie. Harmonie meint nicht, dass etwas schön sein muss. Und mittlerweile merken wir, dass Dinge eben nicht mehr zusammenpassen. Und dann gleitet man in Extreme ab.

Anne Teresa de Keersmaeker
ORF
Anne Teresa de Keersmaeker bei ihrem Interview in Wien

Gibt es für Sie Konzepte, die auch jenseits der Pandemie ihre Gültigkeit haben?

Ich traue mich immer noch, eine Wette auf die Schönheit abzuschließen. Ich fürchte mich nicht davor. Und ich glaube, es gibt auch keine Liebe ohne Gerechtigkeit. Und es braucht Empathie für die Kunst. Also ich sage: Harmonie, Schönheit, Liebe, Gerechtigkeit und Einfühlungsvermögen. Das sind die Grundpfeiler meiner künstlerischen Arbeit. Man sagt in verschiedenen Religionen: Aller guten Dinge sind drei. Ich glaube aber, es sind fünf (lacht).

Was bleibt aber für ein Gefühl gerade nach oder vor einer neuen Pandemie für jemanden über, der mit dem Körper arbeitet wie Sie?

Die Wahrnehmung unserer Welt hängt oft einfach damit zusammen, wie man etwa am Morgen aus dem Bett kommt, wie man seinen eigenen Körper wahrnimmt und sein eigenes Leben. Die Wahrnehmung der Welt wird einfach von unserer allernächsten Umgebung bestimmt. Das ist der Rahmen, durch den wir die Welt sehen. Und während der Pandemie wurde uns der Atem genommen. Wir durften nicht mehr normal ein- und ausatmen, ohne dass ein Filter dazwischen war. Das ist natürlich extrem. Das teilen wir doch am meisten, dass wir alle die gleiche Luft atmen. Und plötzlich ist das andere eine Gefahr. Wir durften nur dem eigenen Körper glauben, nicht mehr den des anderen sehen. Der Körper gehörte den Ärzten, den Politikern, den Wissenschaftlern, die machten plötzlich die Choreografien. Und ich selbst habe mich sehr einsam gefühlt.

Wie steht ihre künstlerische Arbeit im Verhältnis zur Zeit, in der wir leben?

Ich glaube, wir stehen vor großen Herausforderungen. Nichts ist mehr selbstverständlich in dieser Zeit, in der wir die Natur immer mehr zerstören. Das ist das größte Thema. Und unter dieser Zerstörung stehen wir Menschen mit unserem Verhältnis zueinander. Wir müssen wieder zusammenleben, mit den Tieren, mit den Pflanzen. Ich denke, die Menschen sind die größten Raubtiere und Zerstörer. Früher sagte man, die Wölfe sind die größten Zerstörer, doch das sind die Menschen. Wir sind eitel und arrogant. Und wir zerstören. Und wir halten uns für die Herrscher und zerstören dabei unsere Umgebung. Und wer seine Umgebung zerstört, zerstört am Ende sich selbst. Ich finde, wir müssen mit der Idee leben, dass die Welt wieder gut werden kann. Das ist unsere moralische Aufgabe, bei dem, was wir machen. Und wir müssen uns für eine neue Ordnung der Welt einsetzen. Es kippt immer zwischen realistisch optimistisch und zwischen realistisch pessimistisch. Und es ist nicht gerade einfach, in diesen Tagen realistisch optimistisch zu bleiben.