Szene aus Jan Lauwers / Needcompany (BE), All the good
Phile Deprez
Needcompany

Tanzend zum Ursprung der Welt

Der flämische Künstler Jan Lauwers gastiert mit seiner Needcompany auch heuer wieder bei ImPulsTanz, diesmal steht seine Familie fiktional im Zentrum der Performance: Seine schwangere Tochter Romy positioniert eine Minikamera in ihrer Vagina und lässt so in ihr Innerstes blicken. Mit diesem ungewöhnlichen Ansatz sucht „All the Good“ die Verbindung zwischen Privatem, Politik und Kunstgeschichte.

Bei „All the Good“ geht es ans Eingemachte, denn der private Körper ist politisch, und das heißt bei der Needcompany auch, dass sich Kunst nicht an den Regeln der Political Correctness orientiert. Oder wie es Lauwers durchaus provokant formuliert: „Was machen wir, wenn sich die Welt in die Kunst einmischt?“ Vielmehr geht es ihm um Identität, vor allem die eigene, ob die Erzählungen wahr sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle, denn schließlich ist das Theater genau der Ort, wo die Illusion gegenüber der Wahrheit gewinnt.

In Lauwers’ Verständnis lässt sich auch in grausamen Verhältnissen so etwas wie Schönheit ausmachen. Eine Skulptur aus 800 blaugrünen Glaskugeln scheint zunächst als „nutzlose“ Installation, die dennoch sofort mit Bedeutung aufgeladen wird. Mahmoud, einer der letzten Glasbläser in der ehemals blühenden Glasindustriestadt Hebron, hat die Kugeln für die Needcompany hergestellt, schöne Gegenstände, die ihren Sinn erst finden müssen. Gerne würde Lauwers von ihm erzählen, ein Bild zeigt ihn bei seiner Arbeit, doch viel mehr darf nicht gesagt werden, zu heikel ist die Situation im Westjordanland.

Szene aus Jan Lauwers / Needcompany (BE), All the good
Maarten Vanden Abeele
Die Kugeln wurden eigens in Hebron für die Needcompany hergestellt

Schönheit hat ihren Preis

Grace Ellen Barkey, Choreografin (ihr Stück „Malam/Night“ wird am 20. Juli bei ImPulsTanz zu sehen sein), Mitbegründerin der Needcompany und Lauwers’ Frau, findet allerlei Erklärungen für die blaugrünen Kunstwerke: Im Christentum wären es Weihnachtskugeln, im Islam Tränen und ganz ohne Religion gedacht schlicht eine lukrative Einkommensquelle.

Veranstaltungshinweis

„All the Good“ wird im Rahmen des ImPulsTanz-Festivals noch einmal am 19. Juli um 21.00 Uhr im Volkstheater zu sehen sein.

Für die Performerinnen und Performer aber sind sie riskant, andauernd schneiden sich Darstellerinnen und Darsteller an einer zerbrochenen Kugel. Ihre blutenden Wunden demonstrieren, dass Schönheit ihren Preis hat. Doch bis zum Ende der zweistündigen Performance dreht sich die riesige Skulptur viele Male, dieses transparente, zerbrechliche Karussell in Form eines Stegosauriers, dem man neben einem winzigen Gehirn im Kopf ein zweites im Becken zuschreibt.

Kunst oder Sex

Der These folgend, dass Kunst sublimierter Trieb sei, schwört Lauwers dem Sex ab. Weniger bitter als ironisch erzählt seine vernachlässigte Frau, die schließlich auch die Konsequenzen trägt, von dieser Entscheidung. Gemeinsam mit ihrer Tochter Romy sucht sie über die Dating-Plattform Tinder einen Liebhaber, der – so will es der Zufall – akkurat ein Mitglied der Truppe ist.

Szene aus Jan Lauwers / Needcompany (BE), All the good
Maarten Vanden Abeele
„All the Good“ ist ein Stück fiktionaler Familiengeschichte

Die kurze Affäre endet im Desaster, schließlich zählt der junge Maarten zur Theaterfamilie, die aus Lauwers’ Sicht keinesfalls – und schon gar nicht auf diese Weise – gefährdet werden darf. Während Barkey die groteske Situation amüsiert, wird klar, dass die Selbstherrlichkeit des Impresario und Pater Familias zwangsläufig auf Kosten der anderen geht. Und nicht zuletzt wird Lauwers’ Rolle als einzige von einem Schauspieler dargestellt (Benoit Gob), während alle anderen sich selbst spielen, denn Achtung, eines muss klar sein: Das Private ist fiktionalisiert.

Assoziationen und Anarchie

Auf viele Arten fächert die Performance Lauwers’ zentrale Frage „Was erzählt die Vagina über den Zustand der Welt?“ auf. Dabei zieht er den scheinbar logischen Bogen von Gustave Courbets berühmter Darstellung eines weiblichen Schoßes aus dem Jahr 1866 mit dem Titel „Der Ursprung der Welt“ hin zum Innersten seiner Tochter.

Dabei streift er die bisher von der patriarchalen Kunstgeschichtsschreibung vernachlässigte Barockmalerin Artemisia Gentileschi, die als erste Frau mit Ölfarben malte. Die Reduktion weiblicher Schaffenskraft auf ihre Biologie bedeutete, dass Gentileschi nicht nur für ihre Kunst missachtet, sondern auch gefoltert, bestraft und vergewaltigt wurde. Während das ehemalige Nacktmodel Inge Lauwers’ Sohn Victor auffordert, Szenen sexualisierter Gewalt nachzuspielen, reflektiert Lauwers seinen Konflikt als Vater, als sich Tochter Romy in den ehemaligen israelischen Elitesoldaten Elik Niv verliebt.

Szene aus Jan Lauwers / Needcompany (BE), All the good
Phile Deprez
Wie stets wird auch hier das Private politisch bei der Needcompany

„Wir sagen nicht töten“

„Wie viele Menschen hast du getötet?“, möchte das Elternpaar wissen. „Wir sagen nicht töten, sondern Ohren einsammeln“, antwortet Elik ausweichend. Heute ist er Tänzer, und ob irgendetwas an dieser Geschichte wahr ist oder nicht, lässt sich nicht sagen. Und so werden harte Themen und heikle Fragen in geradezu anarchistischer Gleichzeitigkeit aus Bewegung, Musik und Dialog wie beiläufig angedeutet, wieder aufgegriffen und fallen gelassen.

Am Ende der Performance erklärt Lauwers das Gemälde „Kreuzabnahme“ des niederländischen Meisters Rogier van der Weyden zum Höchsten der Kunst: Die Schönheit liegt in ihrer Freiheit, ganz ohne Triggerwarnung. Dass er dabei auf die Notwendigkeit von Dramaturgie in dieser ausufernden Arbeit vergessen hat, nimmt man ihm nicht allzu übel. Vom ImPulsTanz-Publikum wurde die Performance heftig akklamiert.