Szene aus Impulstanz „Vandekeybus Hands“
Danny Willems
Vandekeybus

Hottehü retour in die Unterwelt

Der Belgier Wim Vandekeybus ist mit seiner Kompanie Ultima Vez ein Fixstern beim ImPulsTanz. Heuer tritt er mit mythischen Performance „Hands do not touch your precious Me“ an. In archaisch-lustvollen Ritualen und zum Elektrosound der spanischen Komponistin Charo Calvo werden 4000 Jahre alte Mythen um die sumerische Göttin Inanna auf ihre Tragfähigkeit für die Gegenwart überprüft. Es wurde ein mitunter plakativer Parforce-Ritt retour in die Geschichte

Bei dem rätselhaften Titel „Hands do not touch your precious Me“ handelt es sich um eine Verszeile aus dem Gedicht einer sumerischen Hohepriesterin, das den spektakulären Abstieg der Göttin Inanna in die Unterwelt schildert. In Vandekeybus’ Inszenierung performt die Schauspielerin und Tänzerin Lieve Meeussen die Figur als nachtwandlerisch-ätherische Erscheinung, die – von dunklen Mächten gesteuert (Vandekeybus verkörpert diese treibende Kraft) – ein zentrales Ziel verfolgt: Sie sucht ihre Schwester Ereshkigal in der Unterwelt. Die Reise ist mit inneren, aber auch äußeren Grenzüberschreitungen verbunden, schließlich wird Inanna all ihre Besitztümer zurücklassen müssen, um ihr Alter Ego zu finden.

Die Entdeckung der Ambivalenzen

Vandekeybus‘ künstlerische Auseinandersetzung mit den komplexen Ambivalenzen der Welt zeigt sich formal allzu plakativ: Während Inanna in einem schlichten, weißen Kleid als Göttin der Reinheit, Schönheit und Weisheit auftritt, ergibt sich die schwarz gekleidete Schwester in wilde Tänze, die für andere, düstere Seite der Existenz stehen.

Vor der Folie dieses Widerstreits arbeitet das Oberhaupt aller Götter Ekin am Entwurf des idealen Menschen – und wie könnte dies anders gehen, wenn nicht ganz archaisch: aus Lehm.

Hinweis:

„Hands do nocht touch…“ ist noch am 24. Juli im Volkstheater zu sehen.

Skulpturen aus Lehm

Eine fleischige Skulptur soll es werden, ein kleiner Frauenleib, an dem Ekin bastelt. Der kongolesisch-französische Künstler Olivier de Sagazan arbeitet für „Hands do not touch your precious Me“ erstmals mit Vandekeybus zusammen. Seine Skulpturen und Projektionen verzerren und verfremden die Vorstellung von Gesicht und Körper. Die Utopie des perfekten Menschen bleibt immer im Prozess, ständig wird sie umgestaltet, neu geformt, nie erscheint sie als optimal.

Ekin verklebt die Gesichter der Performerinnen und Performer – die ihm wie Fliegen in die Falle gehen – mit Lehmklumpen, baut Bäuche, Beine und Brüste und verbindet sie mit seinen Skulpturen. Doch die Lehmkörper werden nicht lebendig, im Gegenteil, die Verstrickung mit den Menschen macht aus ihnen tote Leiber, ohne Seele, ohne Risiko.

Szene aus Impulstanz „Vandekeybus Hands“
Danny Willems
Lehm als Medium für eine Suche – und eine Verfremdung des Körpers

Feuer des Lebens und der Zerstörung

Erst als Inanna das Feuer in die Unterwelt bringt, erwacht Ekin. Mit einer Kerze zündet die mesopotamische Göttin sein Haar an, das lange lodert, während sich die Performerinnen und Performer im Kreis um Kerzenlicht sammeln. Die Flammen zerstören und erschaffen zugleich Neues, verwandeln die leblos-kalte göttliche Ordnung in ein System voller Vieldeutigkeiten. So versteht sich das „Me“ im Titel nicht unbedingt als „Ich“, sondern als Summe jener Teile, die so etwas wie Identität ausmachen. Zugleich sind „die ‚Mes‘ göttliche Weisungen für das Leben; die wesentlichen Bausteine von Kultur und Zivilisation“, so Dramaturg Erwin Jans.

Erst der Diebstahl der „Mes“ und die Konfrontation mit dem Tod vollenden die Weisheit und Macht Inannas. Mit feuerroten Händen verteilen die Akteurinnen und Akteure die „Mes“, die auch animalische, irrationale Kräfte freisetzen. Entstellte Gesichter, entgleiste Bewegungen und ungehemmte Grunzlaute gehören in das Schlachtfeld irrlichtender Körper.

Szene aus Impulstanz „Vandekeybus Hands“
Danny Willems
Ultima Vez – und die ewig irrlichternden Körper in einer Performance

Tischgesellschaft als mythisches Substrat

Am Ende des 80-minütigen Abends thront Inanna – nun im farbigen Kleid – zusammen mit Vandekeybus am Ende einer Tafel. Die Tänzerinnen und Tänzer versammeln sich am Tisch, wo Inanna rotes „Me“ auf (videoprojizierten) Tellern verteilt. Das Monströse ist in eine neue, kultivierte Form gebracht, als göttliche Gabe gut portioniert zwischen Lebensgier und Zerstörungswut. Auch wenn es stets um die gleichen Geschichten geht (Liebe, Tod, Sex), überzeugen Vandekeybus‘ extreme, energievolle Performances immer wieder aufs Neue.

Da nimmt man auch die überfrachteten Ritual-Szenen in Kauf. Am Ende gab es heftigen Applaus für den ImPulsTanz-Stammgast Vandekeybus, der heuer außerdem sein 35-jähriges Jubiläum feiert und ab 27. Juli mit der Uraufführung „Scattered Memories“ ein zweites Mal in Wien zu sehen sein wird.