Mensch in Museum
Getty Images/Kittiyut Phornphibul/Eyeem
Museumssammlungen

Erinnerungen an die Coronavirus-Krise

Die Coronavirus-Krise ist ein einschneidendes Ereignis, darin sind sich Politiker, Experten und die Bevölkerung einig. Doch wie wird man sich an sie erinnern, wenn sie vorbei ist? Weltweit beginnen Museen die Situation zu dokumentieren, um sie später vermitteln zu können. Alle sind aufgerufen, potenzielle Erinnerungsgegenstände zu sammeln.

In Jahrzehnten werden wohl die Enkelkinder auf dem Dachboden oder in der Kommode eine Schachtel finden, in der eine sehr alte und von der Zeit schon vergilbte Atemschutzmaske verstaut ist. „Was ist das?“, werden sie fragen – und man wird sich erinnern und erzählen.

Erzählt werden wird von der Zeit, als man viel zu Hause blieb, die Schulen und Kindergärten geschlossen waren und man von den meisten Leuten mindestens einen Meter Abstand halten musste. Wie alle lernten, peinlich genau die Hände zu waschen und in allen möglichen Situationen diese Masken zu tragen, weil es eine neue Krankheit gab, vor der alle sehr viel Angst hatten.

Die Vergangenheit der Zukunft

Wenn die Enkelkinder die Erinnerung der Altvorderen dann ausgeschöpft haben und ihr Wissensdurst noch immer nicht gestillt ist, werden sie sich auf die Darstellungen von zukünftigen Historikerinnen, Historikern und Museen stützen, um mehr zu erfahren. Um ihre gesellschaftliche Funktion als Wissensspeicher zu erfüllen, sammeln Museen in Österreich und der ganzen Welt Artefakte und Dokumente aus der Gegenwart, um den Rohstoff für eine zukünftige Geschichtsschreibung und Vermittlung zu archivieren und bereitzustellen.

Foto von Klopapierrolle
Screenshot/hdgö.at
Das erste Sammlungsobjekt des Hauses der Geschichte: eine Klopapierrolle

Die österreichischen Museen haben sehr rasch mit Sammlungsaufrufen an die Bevölkerung reagiert. Ungewöhnlich an der derzeitigen Situation ist, dass im Moment fast keine Objekte gesammelt werden – die Aufforderungen zur sozialen Distanzierung gelten auch für den Alltag der Historiker und Archivare –, sondern Fotos von Objekten, die von der Bevölkerung hochgeladen werden.

Wohnen und Leben in der Krise

Das Architekturzentrum Wien fragt beispielsweise, wie wir mit den neuen Überlagerungen unserer gewohnten Räume umgehen: „Der Wohnraum wird zur Schule, zum Büro, zum Fitness-Studio, zum virtuellen Partyraum. Wie gehen Sie mit dieser neuen Form der Überbelegung um?“ Erste Ergebnisse dazu finden sich auf Instagram unter dem Hashtag #wiewircoronawohnen.

Das Haus der Geschichte Österreich hat bereits fünf Tage nach der Schließung am 12. März zum Sammeln aufgerufen, selbstgemachte Bilder können hochgeladen werden und sind in Form einer Webausstellung verfügbar. Aber auch Objekte werden schon gesammelt, das erste ist eine Rolle Toilettenpapier. Was alles einmal in die Sammlung übernommen werden wird, ist laut Monika Sommer, der Leiterin des Hauses, „ein sensibler Prozess. Menschen machen sich Mühe, reichen intime Zeugnisse aus dem Lebensalltag ein. Aber Museen können nicht alles annehmen.“ Man darf gespannt sein, welche Objekte einmal in der Zukunft von unserer Gegenwart erzählen werden.

Screenshot der Website vom Wien Museum
Screenshot/wienmuseum.at
Auch das Wien Museum sammelt für die Zukunft des Erinnerns

Auch das Wien Museum hat schon erste Ergebnisse seines Sammlungsaufrufs online gestellt. Vom Osterei mit Nasen-Mund-Schutz über ein Foto vom gemeinsamen Abendessen per Videokonferenz und Aushängen von solidarischen Nachbarn, die für Menschen der Risikogruppe einkaufen gehen, reichen die Einsendungen. Besonders erinnerungswürdig: Die „Covid-19-Bank“, die zu einem Meter Abstand zwingt, weil ihr ein Stück der Sitzfläche fehlt.

Dichte Sammlung

Zukünftige Historiker werden für die Sammlungspolitik der Gegenwart jedenfalls dankbar sein. Historische Arbeit bedingt ja immer auch eine Verdichtung von Erkenntnissen, die aus ähnlichen Quellen entstehen. Schon sehr bald war klar, dass die Coronavirus-Krise mit vielen Aspekten der Kultur bricht: Eine Pause für Veranstaltungen und Mobilität ist ebenso angesagt wie massive Änderungen für den Arbeitsalltag.

Das führt dazu, dass erstmals – wenn man so will – in der Geschichte Österreichs etliche Museen von Bregenz über Villach, Steyr und Linz bis nach Graz und Wien zum selben Thema sammeln. Wer wissen will, wo seine bzw. ihre Fotos, Dokumente und Objekte gebraucht werden, findet hier einen Überblick:

Erste CoV-Ausstellung 2021

Das Graz Museum verbindet seinen Sammlungsaufruf „Wir Sammeln heute für morgen“ gleich mit einem konkreten Ausstellungsvorhaben. Bereits im Herbst 2021 soll die erste Coronavirus-Schau stattfinden. Laut Direktor Otto Hochreiter stellen sich für diese zwei Hauptfragen: „Was spielt sich in den Räumen, in den Wohnungen der Menschen ab?“ und „Was ist die Erfahrung mit Zeit?“.

Das Internet gewinnt als geteilter Erfahrungsort, als Veranstaltungsraum und als Diskursplattform momentan noch mehr als sonst an Bedeutung. Es liegt also nahe, auch diese Neuerung zu dokumentieren, um sie später historisieren zu können. Genau das übernimmt aktuell die Österreichische Nationalbibliothek mit ihrem Webarchiv – unter anderem werden auch die Nachrichten von ORF.at während der Coronavirus-Krise archiviert.

Screenshot von Instagram
Screenshot/Instagram/covidartmuseum
Der Instagram-Kanal „Covid Art Museum“ bietet künstlerisch Avanciertes

CoV international sammeln

Das Deutsche Historische Museum wendet sich nicht direkt an die Bevölkerung, sammelt aber auch schon relevante Objekte zur Krise, „manche sagen ja schon, vor und nach Corona ist eine neue Zeitrechnung“, sagte Fritz Backhaus, der Abteilungsdirektor Sammlungen des DHM.

Das Stadtmuseum Berlin hat sich hingegen, wie viele österreichische Museen, direkt an die Bevölkerung gewandt. Unter dem Slogan „Gegenwart sammeln für das Stadtmuseum der Zukunft“ können auch hier Fotos zum Berlin während der Coronavirus-Krise beigesteuert werden. Laut Paul Spies, dem Direktor des Museums, sei eine rasche Präsentation nicht das Ziel: „Ich glaube eher nicht, dass die Leute sich nach Ende der Krise gleich wieder mit einer Corona-Ausstellung beschäftigen wollen. Das braucht ein bisschen Zeit. Man muss ein bisschen Abstand nehmen, um alles zu bewerten und zu analysieren.“

Die Museen sind ein Gefäß für das kulturelle Gedächtnis. Ein weiteres dieser Gefäße in Deutschland ist der atomangriffssichere Barbarastollen im Hochschwarzwald. Im „Zentralen Bergungsort“ lagern Abermillionen Dokumente, auf Mikrofilm gespeichert. Sie sollen, auch unter den schlimmsten Umständen, als Langzeitgedächtnis der Deutschen dienen. In Zukunft wird man wohl auch hier alles Mögliche zu Abstandsregeln und Maskenpflicht archivieren.

Ein Blick nach New York und von Barcelona in die Welt

New York ist einer der Orte, der weltweit am stärksten von der Coronavirus-Krise betroffen ist. Wie wird man sich hier erinnern? Das Museum of The City of New York betreibt unter dem Titel #CovidstoriesNYC ein Instagramarchiv mit teils spektakulären, teils erschreckenden Bildern. Auch das International Center of Photography in New York betreibt einen Instagram-Hashtag #icpconcerned, unter dem man schon jetzt künstlerisch überzeugende Bilder aus der Bevölkerung findet.

Screenshot der Website von Museum of the City of New York
Screenshot/mcny.org
Auch in New York wird zum Thema Coronavirus fotografiert und gesammelt

Das kreative Potenzial der gesellschaftlichen Ausnahmesituation haben auch drei Journalisten aus Barcelona erkannt und, ebenfalls auf Instagram, ein Museum zum künstlerischen Umgang mit der Krise namens „CAM The Covid Art Museum“ gestartet. Dort finden sich bereits Auseinandersetzungen mit Fragen zu Einsamkeit, Begehren und Trauer, die sich aktuell auf neue Weise stellen.