Zwei Frauen stehen während einer Perfomance auf der Bühne
Willy Vainqueur
Wiener Festwochen

Szenen einer Welt in Flammen

Die „Wiener Festwochen Reframed“ gehen in ihre dritte Woche. Da das Festival nicht stattfinden kann, werden zu jedem Stück kleine Onlinearbeiten veröffentlicht, „Gesten“ nennt sie Festwochen-Intendant Christophe Slagmuylder. Eine Schwerpunktsetzung des nicht realisierten Programms kommt auch in ihnen zur Geltung: aktuelles, politisches Theater.

Die „Gesten“ der Wiener Festwochen führen das Publikum dorthin, wo es brennt. Zwar herrscht weltweit eine vom Coronavirus bedingte Ausnahmesituation, das soll aber nicht vergessen machen, dass im Amazonas getötet wird, in Santiago de Chile noch vor Kurzem eine Revolution im Gange war und es in den Pariser Banlieues nur eine Frage der Zeit ist, bis wieder Autos in Flammen aufgehen.

Gesten und Arbeiten von Marion Siefert, Kay Sara und Milo Rau, Faustin Linyekula, Guillermo Calderon und Tiago Rodrigues vermessen die Möglichkeiten des Gegenwartstheaters in der Auseinandersetzung mit Aufständen, Unterdrückung und dem Erbe von Diktaturen und Kolonialismus.

Community-Theater aus der Banlieue

Die bis jetzt umfangreichste Onlinearbeit hat Marion Siefert geliefert. Bei ihrem „Brief an die Wiener*innen“ handelt es sich um einen 55-minütigen Film, der die Entstehung ihres Theaterstücks „Du Sale!“ dokumentiert.

Als Auftragsarbeit entstanden, sollte sich dieses mit dem Pariser Vorort Aubervilliers auseinandersetzen, einer der ärmsten Gemeinden Frankreichs. Dort trifft sie ihre Protagonistinnen Jeanice und Laeti, mit denen sie ihr Stück erarbeitet. „Du Sale!“ ist ein Stück über Klassenunterschiede, die Lebenswelt der Protagonistinnen und „Rap als Kunst der Armen“.

In ihrer Geste zeichnet Siefert einfühlsam nach, wie ihr Zugang zum Community-Theater aussieht und wie der Prozess bis zur ersten Aufführung mit Jeanice und Laeti war. Außerdem begründet sie ihre theaterästhetische Ansicht: „Wenn sich das Theater nicht für etwas anderes öffnet, als für die Probleme des weißen Bildungsbürgertums, wird es das nicht überleben.“

Theater zwischen Aktionismus und Kunst

Dringlich und ohne falsches Pathos präsentierte die brasilianische indigene Aktivistin und Schauspielerin Kay Sara ihre Eröffnungsrede „Dieser Wahnsinn muss aufhören“ live aus dem Amazonas anstatt im Burgtheater. Darin wies sie auf die verzweifelte Lage der Amazonas-Völker hin, die aktuell unter dem Deckmantel der Bekämpfung der Coronavirus-Krise zunehmenden Repressionen ausgesetzt sind. Außerdem thematisierte sie den ökologischen Ausnahmezustand unseres Planeten und verwob unter Bezugnahme auf Sophokles’ „Antigone“ eindrucksvoll Theater, Aktivismus und Kritik. Sara arbeitet mit Milo Rau gerade an einer Inszenierung des Stücks.

„Ich hätte Antigone gespielt, die sich gegen den Herrscher Kreon auflehnt, der ihren Bruder nicht beerdigen will, weil er als Staatsfeind gilt. Der Chor hätte aus Überlebenden eines Massakers der brasilianischen Regierung an Landlosen bestanden“, heißt es in der Rede. „Wir hätten diese neue ‚Antigone‘ auf einer besetzten Straße durch den Amazonas aufgeführt – jenen Wäldern, die in Flammen stehen. Es wäre kein Theaterstück gewesen, sondern eine Aktion.“

Das politische Theater bewegt sich für Sara im Bereich des Wiederstandes anstatt im Bereich der Kunst. Auf die Rede folgte eine Diskussion mit Rau, der mit Sara an der Sophokles-Inszenierung arbeitet, und der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera, die mehrere Produktionen für die Wiener Festwochen vorbereitet hatte.

Theatergeschichte als Machtgeschichte

In dem Stück „Histoire(s) du Theatre II“ des kongolesischen Regisseurs Faustin Linyekula, die schon 2019 aufgrund von Visaproblemen nicht bei den Wiener Festwochen aufgeführt werden konnte, handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit der Diktatur- und Kolonialgeschichte des Kongo.

Linyekula setzt sich in seiner Theatergeschichte mit dem 1974 von Diktator Mobutu Sese Seko gegründete Nationalballett von Zaire – der heutigen Demokratischen Republik Kongo – auseinander. Auf der Bühne stehen drei Mitglieder des Ensembles, die seit der Gründung Teil des Balletts sind und ihre Geschichte in dieser Institution tanzend und erzählend befragen.

Zwei Frauen und ein Mann in bunter Kleidung
Agathe Poupeney
„Histoire(s) du Theatre II“ von Faustin Linyekula thematisiert die kongolesische Kolonial- und Diktaturgeschichte

Daneben spielen zwei jüngere Schauspieler, ein Belgier und ein Kongolese, die historische Tanz- und Kampfszenen von 1974 „reenacten“ und ihre eigenen, persönlichen Geschichten reflektieren. So verschwimmen Theatergeschichte, die Geschichte der brutalen Kolonisierung des Kongo durch Belgien und die Diktatur Sekos. Ein 17-minütiger Ausschnitt des Stücks ist als „Geste“ auf der Homepage der Festwochen abrufbar.

Im Zentrum des Aufstandes

In der Video-„Geste“ zu seinem Stück „Dragon“ erzählt der chilenische Regisseur Guillermo Calderon, wie die Bedeutung seiner Arbeit plötzlich politisch wurde. In seinem Stück treffen sich Künstler in einem Restaurant und debattieren darüber, ob ihre Werke auf der Straße gezeigt werden sollen, wo das Leben der Menschen stattfindet.

Just Plaza Italia in Santiago de Chile vor dem Restaurant, in dem das Stück spielt, wurde seit Oktober 2019 zum Zentrum des Aufstandes gegen die Regierung von Präsident Sebastian Pinera. Ein Aufstand, der gerade ebenso vom „Lock-down“ betroffen ist wie die Theater.

Politisches Theater zwischen Fakt und Fiktion

In Tiago Rodrigues’ „Catarina e a belleza de matar fascistas“ (Catarina oder von der Schönheit, Faschisten zu töten) verbindet er die Geschichte von Catarina Eufemia, einer 1954 von der Salazar-Diktatur ermordete Landarbeiterin die zu einem Symbol des Widerstands wurde, mit dem portugiesischen Richter Joaquim Neto de Moura.

Neto de Moura löste im gegenwärtigen Portugal Skandale aus, als er beispielsweise Gewalt von Männern an Frauen mit der Bibel zu legitimieren versuchte. Das Stück stellt Fragen zur Rechtfertigung von Gewalt und zu Konsequenzen der Darstellung von Gewalt auf einer Theaterbühne. In der dazu gehörigen Videogeste spricht Rodrigues im Interview über diese Themen.