Bachmannpreis Spezial

Erster Lesetag: „Worum geht es hier?“

Die Spezialausgabe der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur hat den Zusehern am Donnerstag einen spannenden ersten Lesetag beschert. Es wurde über die Texte von Jasmin Ramadan, Lisa Krusche, Leonhard Hieronymi, Carolina Schutti und Jörg Piringer diskutiert. In der teils neu zusammengesetzten Bachmannpreis-Jury kam es zu dynamischen Diskussionen und zartem Schlagabtausch.

Das Wichtigste vorweg: Die technische Umsetzung des digitalen Bachmannpreises funktionierte nahezu reibungslos. Einmal fiel der Stream von Neo-Jurymitglied Brigitte Schwens-Harrant für zwei Minuten aus, und einmal hörte man gegen Schluss Klaus Kastberger über Piringers Text sprechen, sah aber kein Bild.

Auch inhaltlich gab es keine ernstzunehmenden Pannen. Neo-Kritiker Philipp Tingler, der schon vor Monaten ankündigte, Autorinnen und Autoren des Bewerbs müssten „ordentlich einstecken können“, brachte Schwung in die Diskussionsrunden, die über den ganzen Lesetag eine erfrischende Uneinigkeit pflegte.

Emotionale Leere über 40

Ramadan eröffnete die Lesungen mit einem Auszug aus dem Roman in Arbeit „Ü“. Darin zeichnet sie die emotionale Leere des erfolgreichen Künstlers und Werberegisseurs Ben nach. Dieser vorgebliche Feminist verachtet seine Partnerinnen insgeheim und hat gerade die Ehe zu seiner Frau Leila an die Wand gefahren: „Nun lebte er allein in großer Ordnung zwischen Regalen aus Palisanderholz von ambitionierten Designern“, heißt es im Text.

Lesung von Jasmin Ramadan

Ein zweiter Handlungsstrang dreht sich um Marlene, eine ehemalige Geliebte von Ben aus Studienzeiten. Auch sie leidet an emotionaler Leere. Sie ist von ihrer Ehe mit Linus gelangweilt und hadert mit ihrem Alltag. Durchgängige Motive des Textes sind Panikattacken, Wut und Überdruss. Ramadan schreibt in beiläufiger Prosa von Problemen deutscher Großstädter der oberen Mittelschicht über 40.

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

„Gefühl einer Generation“ oder „simpel und maschinistisch“

Tingler, der Ramadan zum Bewerb eingeladen hatte, attestierte dieser, mit „Ü“ das „Gefühl einer Generation“ eingefangen zu haben. Kastberger, der über die erste Hälfte des Lesetages eine fast humoristische Opposition zu Tinglers Urteilen einnahm, fand den Text „ein wenig zu simpel und maschinistisch“.

Debatte der Jury zu Ramadan

Insa Wilke attestierte dem Text eine zweite Ebene aus mythologischen Anspielungen, das Grundthema seien „domestizierte Wünsche“. Michael Wiederstein meinte, der Text sei eine Milieustudie der Hamburger Vorstadt, keine Stimme einer Generation. Später urteilte er über den Text: „Eigentlich erwarte ich von Literatur, dass sie Horizonte aufmacht und nicht schließt.“ Für Nora Gomringer war das Thema von „Ü“ die „Lakonie, die sich einstellt, wenn man auf Sicherheit setzt“.

Mehr zur Jurydiskussion zu Ramadan lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

Judith nach der Apokalypse

In ihrem Text „Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere“ schrieb Lisa Krusche ihre Protagonistin Judith in eine diffuse, postapokalyptische Szenerie. Der Text ist in Jugendsprache gehalten, Judith hat „Vanillaflavourliquid im Vapo“, die Idee, Pflanzen mit menschlicher DNA zu züchten, erscheint ihr „in gewisser Weise nice“, sie ist „tough“ und Nahrung ist „crazy gehaltvoll“.

Lesung von Lisa Krusche

Ein Teil des Textes beschreibt, wie Judith kiffend Computer spielt. Eine vorherige Zeitebene rollt eine nicht näher definierte Beziehung zu einer Figur namens Camille auf. Das dystopische Thema einer Klimakatastrophe, digitale Welten und Versatzstücke mythologischer Bilder und Referenzen werden in „Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere“ aufgerufen.

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

„Zustand vor dem Urknall“ oder „Ästhetik des Konsums“

„Mut zum politischen und Mut zum Gefühl“ attestierte Wilke der Autorin. Sie machte die feministische Theoretikerin Donna Haraway als starken Bezugspunkt des Textes aus. Wilke fühlte sich an Ridley Scotts Sience-Fiction-Film „Blade Runner“ erinnert und meinte, der Text beschriebe einen „Zustand vor dem Urknall“.

Debatte der Jury zu Krusche

Tingler fand, der Text arbeite mit einer „Ästhetik des Konsums“, und meinte, es handle sich um ein „Missverhältnis von Substanz und Präsentation“, in Anschluss an Theodor W. Adorno rückte er den Text in Richtung des Kitsches. „Worum geht es hier eigentlich?“, fragte er seine Jurykollegen.

Klaus Kastberger, der Krusche eingeladen hatte, ging auf die Provokationen Tinglers ein und meinte, stets wären es die Schweizer Kritiker, die Texte voller dystopischer Bilderwelten falsch verstünden. Juryvorsitzender Winkels sprach von einem mythischen Raum, der durch die Anspielungen im Text aufgerufen werde und der in den neuen mythologischen Raum der Computerspiele überführt werde.

Holofernes
Public Domain
Eine der vielen Anspielungen in Krusches Text betraf laut Gomringer Judith und Holofernes, hier in einer Darstellung der Barockmalerin Artemisia Gentileschi

Nora Gomringer verortete eine Anspielung auf das im Barock besonders beliebte Motiv der biblischen Judith, die dem König Holofernes den Kopf abtrennt. Während die Kritik geteilter Meinung war, outete sich der Grazer Autor Clemens Setz auf Twitter noch während der Lesung als Fan Krusches und des im Text beschriebenen Computerspiels „Goat Simulator“.

Mehr zur Jurydiskussion zu Krusche lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

Europa als Ruine

In Hieronymis Text „Über uns, Luzifer“ möchte der Erzähler gemeinsam mit zwei Freunden das Grab des antiken Dichters Ovid besuchen, der in das heutige Rumänien verbannt wurde, nachdem er seine „Ars Amatoria“ veröffentlichte. Hieronymi verwebt Anspielungen auf die europäische Kulturgeschichte und Autoren wie W. G. Sebald und Julia Kristeva mit einer Infragestellung der Gegenwart der politischen Gemeinschaft Europas.

Lesung von Leonhard Hieronymi

An einer Stelle sinniert der Erzähler: „Europa war ein großer Friedhof, voll mit verscharrten Dichtern, deren Bilder so groß waren wie ein ganzes Land oder wie ein ganzer Kontinent.“ Gleichzeitig beginnt die EU-Ratspräsidentschaft Rumäniens. Mit einem melancholischen Blick sieht der Erzähler auf die Schichten der Kulturgeschichte zurück.

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

„Konservative Ästhetik“

Wilke sagte, der Text verfüge über eine „konservative Ästhetik“. Sie fühlte sich an den Neorealismus der Regisseure Federico Fellini und Pier Paolo Pasolini erinnert. Hieronymi setze Männerbünde gegen die politische Gemeinschaft Europas.

Winkels meinte, der Text habe Kraft, und zwar die „Kraft der Verwerfung“. Es gehe um Ruinen, die ins Nichts verweisen, das Grab von Ovid als Ziel des Erzählers sei leer. Er las in dem Text eine Abwertung des Ostens als Rand Europas. Brigitte Schwens-Harrant schloss sich später in der Diskussion dieser Lesart an.

Debatte der Jury zu Hieronymi

Kastberger kritisierte: „Dem Autor wird bei diesem Text selbst fad.“ Er ortete romantische Ironie und eine gescheiterte Auseinandersetzung mit Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“. Gomringer empfand die literarischen Anspielungen im Text als „Stunts“.

Tingler pflichtete bei und sah „mittelmäßiges Handwerk und mittelmäßige geistige Durchdringung“ am Werk. Wiederstein las den Text als Groteske auf den europäischen Kulturtourismus und eine hohle Erinnerungskultur.

Mehr zur Jurydiskussion zu Hieronymi lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

Rätselhafte Bedrohung

Carolina Schutti las aus ihrem Text „Nadjeschda“. Die Ich-Erzählerin darin befindet sich in einer undefinierten Betreuungseinrichtung und erinnert sich an eine traumatische Begebenheit, einen Unfall bei schwerer Arbeit. Möglicherweise soll die Figur, nach einer längeren Therapie, wieder in ihren Alltag zurückkehren.

Lesung von Carolina Schutti

In den Erinnerungen der Figur schwingt eine bedrohliche Stimmung mit, die aber nicht aufgelöst wird. Womöglich hat die Figur eine Hand verloren. Verletzungen werden als Motiv wiederholt, genauso wie Bilder von Wasser. „Wellen“, „Gischt“, „Flut“, „See“ und „schlammiges Wasser“ kommen in dem Text vor, der in Abschnitte namens „Eine Aufregung“ und „Eine Erinnerung“ gegliedert ist.

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

Selbstermächtigung oder Konvention

Winkels erinnerte daran, dass der „Psychiatrietext“ ein Genre war, das für lange Zeit beim Bachmannpreis häufig war. „Nadjeschda“ liefere die „Genealogie der traumatischen Empfindungen“ der Figur, aber nicht ihre Ursache. Der Text sei aus einem Guss und elegant.

Wilke erinnerte der Text an den Film „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt, Anspielungen auf den Philosophen Diogenes und an Franz Kafka machte sie aus. Der Text klinge für sie ähnlich wie Christine Lavants „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“. „Nadjeschda“ sei ein Text über „ästhetische Selbstermächtigung“.

Debatte der Jury zu Schutti

Kastberger machte der Text „nervös“, die Wiederholung sei „forciert“ und mache den Text für ihn „zu langsam“. Gefreut habe er sich über einen einzelnen Satz, der Sinnlichkeit verspreche. Er lautet: „Ich rieche nach Gemüse.“

Für Tingler war der Text ein Paradebeispiel für ein veraltetes, akademisches Literaturmodell. Der Text sei ihm zu „hermetisch“ und nach Rezept geschrieben. Wiederstein fand den Text kongruent und überzeugend. Es gehe um das Gefühl, keine Sprache zu finden. Er mutmaßte, ein biografischer Bezug zur Autorin sei im Titel versteckt.

Schwenz-Harrant, die Schutti eingeladen hatte, meinte, diese sei eine spannende Spracharbeiterin. Sie fand viele großartige Bilder im Text und las ihn als die Geschichte eines Überlebens. Sie wies darauf hin, dass der Vorname „Nadjeschda“ "Hoffnung bedeute. Auch Gomringer las „Nadjeschda“ als Überlebenstext, der sie aber in seiner Redundanz ermüde.

Mehr zur Jurydiskussion zu Schutti lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

Vorgeschichte der Zukunftstechnologie

Jörg Piringers Text „kuzushi“ erzählt vom Gefühl der Freiheit und der wunderbaren Zukunft nach dem Fall der Berliner Mauer. Sein Text, der in Form einer Ode in freien Versen verfasst ist, erzählt von Technikutopien eines „Wir“, das in den 1990er Jahren das Internet als Befreiung und Versprechen von Aufklärung erlebt.

Lesung von Jörg Piringer

Für das lyrische Ich dieses Textes wird 9/11 zum Ereignis, in dessen Folge unter dem Deckmantel der Sicherheit die Freiheiten eingeschränkt werden. Piringer erzählt von der Entwicklung von YouTube und einem Computerprogramm, das menschliche Texte nachahmen kann.

In „kuzushi“ suggeriert Piringer teilweise, sein Text sei möglicherweise von einem solchen Programm verfasst worden. Eine weitere Textebene bilden Ausführungen über Judo, worauf der Titel Bezug nimmt.

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

Maschinelle Machart und künstliche Intelligenz

Kastberger meinte, für ihn sei „Maschinen der Hoffnung“ die zentrale Formulierung des Textes. Dieser gefalle ihm gut, auch die maschinenhafte Sprache, bis auf den „oberlehrerhafter Ton“, der darin herrsche. Er könne sich vorstellen, dass der Text teilweise von einer Maschine geschrieben sei, was er aber „kaum als Provokation“ empfinden würde.

Debatte der Jury zu Piringer

Gomringer mochte „den Verachtungston“ des Erzählers, „der seine Lebensphilosophie in Gefahr sieht“. Tingler fand den Text „gewollt“ und qualifizierte die maschinenhafte Machart als „ähnlich frisch wie die Idee, alles klein zu schreiben“ ab.

Wiederstein fand den Text eine gelungene Umsetzung des alten Spruches, dass „die Feder mächtiger ist als das Schwert“, da künstliche Intelligenz Macht über Sprache ausüben könne. Wilke mochte die Thematisierung der politischen Veränderungen seit 1989.

Im Laufe der Diskussion ereignete sich eine weitere Neuerung: Wiederstein wandte sich direkt an den Autor, um zu fragen, ob der Text von einer künstlichen Intelligenz verfasst worden sei. Piringer bejahte, eine Stelle sei tatsächlich von einem Computerprogramm geschrieben worden.

Somit hat der digitale Bachmannpreis auch das erste Mal einen „digitalen Bachmannpreistext“ hervorgebracht.

Mehr zur Jurydiskussion zu Piringer lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.