Helga Schubert
ZDF/SRF/ORF/3sat
„Vom Aufstehen“

Schubert gewinnt Bachmannpreis

Am Sonntag hat die finale Jurydiskussion und Verleihung des Bachmannpreises Digital – der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur – stattgefunden. Neben Helga Schubert bekamen Lisa Krusche, Egon Christian Leitner, Laura Freudenthaler und Lydia Haider Preise zugesprochen.

Die Jury entschied sich in einer Stichwahl für Schubert als Trägerin des Hauptpreises. Für Schubert war ihre Lesung am Freitag eine späte zweite Chance auf den Bachmannpreis. Bereits vor vierzig Jahren war sie zum Wettlesen eingeladen worden, durfte aber nicht aus der DDR ausreisen. In ihrem Vorstellungsvideo nannte sie ihre diesjährige Einladung durch Insa Wilke einen „kleinen Sieg über diese Diktatur“. Allerdings war sie von 1987 bis 1990 selbst Teil der Jury des Wettbewerbs.

Im Text „Vom Aufstehen“ ging es um die schwierige Mutterbeziehung der Erzählerin, die sich alle biografischen Eckdaten mit Schubert teilt. Der Vorname „Helga“, das Geburtsdatum, die DDR-Biografie laden zu einer autobiografischen Lesart ein. Es ist ein schonungsloser Text, der um den Tod der 101-jährigen Mutter und die lebenslange, prägende Beziehung kreist.

Lesung von Helga Schubert

Ablehnung und Verzeihen

Eine grundlegende Ablehnung der Mutter gegenüber der Tochter ist zu spüren. Die Mutter erklärt der Tochter, dass sie eine Heldentat vollbracht habe, als sie die Tochter beim Einmarsch der Russen in Greifswald 1945 nicht ermordete: „Dein Großvater verlangte nämlich von mir, dass ich mich vergifte oder erschieße.“ Und weiter: „Dann muss ich ja mein Kind vorher töten, habe ich zu ihm gesagt. Das kann ich nicht. Da habe ich dich am Leben gelassen.“

„Vom Aufstehen“ ist ein starkes Stück Autofiktion, das um frühe Verletzungen und die Rettung durch Literatur erzählt. „Ich sagte zu meiner Mutter: Ich verdanke dir, dass ich lebe, es ist alles gut“, sagt die Erzählerin zur Mutter am Totenbett. Das sind auch die letzten Worte des Textes: „alles gut“.

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

Jurorin Wilke hatte Schubert eingeladen. In ihrer Laudatio sprach sie von einem „klugen und souveränen Text“, in dem die Mutter die Erzählerin mit der „schweren Bürde eines Satzes ins Leben entließ: ‚Wärst Du doch auf der Flucht gestorben.‘“ Es sei ein Stoff aus dem man eine „Geschichte der Katastrophe“ hätte machen könne, Schubert erzähle aber „stattdessen, wie man Frieden machen“ könne.

Laudatio von Insa Wilke

Die Vergabe des Bachmannpreises an Schubert ist selbst auch eine Geste des Friedenmachens. Frieden mit der Geschichte, die es Schubert unmöglich machte, vor vierzig Jahren beim Bachmannpreis zu lesen, und Frieden mit der Zeit, als sich die westdeutschen Juroren auf „ungute Weise“ von ihren Kollegen und den Autoren der DDR distanziert hätten, wofür sich Hubert Winkels in der Jurydiskussion zu Schuberts Text am zweiten Lesetag entschuldigt hatte.

Deutschlandfunkpreis an Lisa Krusche

In einer knappen Stichwahl konnte sich Lisa Krusche knapp gegen Laura Freudenthaler durchsetzten. Krusche erhielt den Deutschlandfunkpreis.

In ihrem Text „Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere“ schrieb Lisa Krusche ihre Protagonistin Judith in eine diffuse, postapokalyptische Szenerie. Der Text ist in Jugendsprache gehalten, Judith hat „Vanillaflavourliquid im Vapo“, die Idee, Pflanzen mit menschlicher DNA zu züchten, erscheint ihr „in gewisser Weise nice“, sie ist „tough“ und Nahrung ist „crazy gehaltvoll“.

Lesung von Lisa Krusche

Ein Teil des Textes beschreibt, wie Judith kiffend Computer spielt. Eine vorherige Zeitebene rollt eine nicht näher definierte Beziehung zu einer Figur namens Camille auf. Das dystopische Thema einer Klimakatastrophe, digitale Welten und Versatzstücke mythologischer Bilder und Referenzen werden in „Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere“ aufgerufen.

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

„Eminent politische“ Fragestellung

Kastberger, der Krusche nominiert hatte, sagte in einer Laudatio, diese frage, „wohin dieses Zusammenspiel von Virtuell und Real“, das man auch beim Bachmannpreis erleben habe können, führen werde. Sie führe eine „eminent politische Dimension“ in diese Frage ein, so Kastberger, nämlich ob das Digitale auch zur Lösung realer Probleme beitragen könne.

Laudatio von Klaus Kastberger

„Klimawandel, Überbevölkerung und Armut“ werden im Text thematisiert. Er setzte auch die radikalen Thesen der feministischen Biologin Donna Haraway in Szene. „Macht keine Kinder“, fordere diese, so Kastberger, sondern „macht euch miteinander und den anderen Lebewesen in dieser Welt verwandt“.

KELAG-Preis an Egon Christian Leitner

Der KELAG-Preis ging an Egon Christian Leitner. In „Immer im Krieg“ verbindet er verschiedene Textbausteine, die alle nur mit „Tag, Monat, Jahr“ überschrieben sind und verschiedentlich von der neoliberalen Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche und einer entsolidarisierten Welt erzählen.

Lesung von Egon Christian Leitner

In Sätzen wie „So, die magersüchtige Frau ist verhungert. Habe ich heute aus der Firma erfahren. Tot. Wie und warum weiß niemand. Niemand.“ entwickelt der Text eine eindringliche Sicht auf Ungerechtigkeiten und strukturelle Gewalt, die durch eine Sprache der betriebswirtschaftlichen Optimierung und Adjektive wie „falloptimiert“ verschleiert wird.

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

„Ausnahmeerscheinung“

Kastberger, der auch Leitner zum digitalen Bachmannpreis eingeladen hatte, hielt seine zweite Laudatio an diesem Tag. Leitner sei eine Ausnahmeerscheinung „auch in der österreichischen Literatur“, und wer diese kenne, wüsste, wie schwierig es sei, „selbst in dieser noch eine Ausnahme darzustellen“.

Laudatio von Klaus Kastbeger

Leitner zeige in seinem Werk auf eine „unumgängliche“ Art und Weise, dass der Sozialstaat, der als Lösung in einer Welt voller Unterschiede und Ungerechtigkeiten gelte, „selbst ein Problem hat“. Leitner weise die Leser darauf hin, dass man auf diese Unterschiede schauen müsse. Er halte es „für ein Wunder“, dass ein Preis, der auf dieser Ebene arbeite, einen Preis beim Bachmann-Wettlesen bekomme, und freute sich mit Leitner.

3Sat-Preis an Laura Freudenthaler

Freudenthaler, die schon bei allen anderen Preisen viele Stimmen bekommen hatte, gewann den 3Sat-Preis. In ihrem Text „Der heißeste Sommer“ geht es um eine versehrte Ich-Erzählerin, die auf dem Land ihre Verletzungen kuriert. Sie hat eine große Faszination für Feuer und Brände, deren verschiedene Brandformen sie beschreibt. Es ist ein starker Text, in dem Freudenthaler auslotet, welche Lust wir am Zusehen bei der Zerstörung unserer Welt empfinden.

Lesung von Laura Freudenthaler

Ganz nebenbei werden brisante Themen wie Brände im Regenwald und die Situation von ausgebeuteten Erntehelfern thematisiert. Die Erzählerin und ihr Freund Silvius entpuppen sich als Pyromanen. An einer zentralen Stelle heißt es: „Da hinten, sagt Silvius, brennt es. Erzähl. Es ist wunderschön.“

Der Text könnte durchaus auf Immanuel Kants Kategorie des Erhabenen bezogen werden, die Bewunderung für etwas, das größer ist als der Mensch, der nur dasteht und die Schönheit und Macht des Feuers bewundern kann. Im Text heißt es: „Die Brandfläche ist zu einem heiligen Hain geworden, die Feuerwehrsleute zu seinen Wächtern.“

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

Fragen der Poetik und der Ethik

Schwens-Harrant hielt die Laudatio auf Freudenthaler. Das Feuer der pyromanischen Erzählerin in Freudenthalers Text, sei „angeheizt von Vergehen gegen die Natur und die Menschen“. Der Text stelle die Frage, ob „der verletzte Mensch und die gefährdete Erde noch zu retten“ seien. Der Text fordere ein „Mehr an Wahrnehmung“, das für diese Rettung nötig sei, radikal ein. Freudenthalers Poetik erweise sich in diesem Text auch als Ethik.

Laudatio von Brigitte Schwens-Harrant

Am Sonntagnachmittag zeigte sich Freudenthaler im Telefonat mit ORF.at glücklich über die Zuerkennung des 3Sat-Preises: „Ich freue mich sehr über den Preis, er ist wichtig, das Geld ist auch wichtig, das muss man immer dazusagen. Dieser Preis verleiht Sichtbarkeit“, so Freudenthaler.

Publikumspreis an Lydia Haider

Haider, deren Litanei „Der große Gruß“ eine heftige Jurydiskussion ausgelöst hatte, gewann den BKS Bank Publikumspreis. Im Textstrom auszumachen sind die Erschießung eines Hundes und Fantasien von der Ausrottung aller Hunde, wobei kein Zweifel daran gelassen wird, dass die Gewaltaufforderungen jederzeit auch menschliche Opfer einfordern könnten.

Lesung von Lydia Haider

Die Gewalt an Hunden enthält eine interessante Anspielung: 2017 verfasste Haider zusammen mit Stefanie Sargnagel und Maria Hofer ein fiktives „Recherchetagebuch“ einer Reise nach Marokko für den „Standard“. Sargnagel schrieb über Haider: „Heute hat sie eine Babykatze zur Seite getreten mit der Behauptung, sie habe Tollwut, danach biss sie selbstzufrieden in eine vegetarische Crepe.“

Daraufhin brach im Boulevard ein Shitstorm los, der als „Babykatzengate“ bekannt wurde und mit dem Sargnagel – die beim Bachmann-Wettbewerb 2016 den Publikumspreis gewann – und Haider immer wieder spielen. „Der große Gruß“ ist ein intensiver Text, der auf brutale Weise die Gewalt von kirchlicher und autoritärer Sprache thematisiert, er antwortet mit gewalthafter Sprache auf Gewalt, die durch Sprache vorbereitet und ausgeübt wird.

Den ganzen Text lesen Sie in bachmannpreis.ORF.at.

Die Jury

Die Königsmacherinnen und Königsmacher des Bachmannpreises sind von je her die Mitglieder der Jury. 2020 bestand die siebenköpfige Jury unter Vorsitz von Hubert Winkels neben diesem aus Nora Gomringer, Michael Wiederstein, Klaus Kastberger, Insa Wilke und den beiden Neuzugängen Philipp Tingler und Brigitte Schwens-Harrant.

Jury bei der Bachmannpreisverleihung
ORF/Johannes Puch
V. l. n. r. Kastberger, Wilke, Gomringer, Winkels, Wiederstein, Schwens-Harrant, Tingler und Moderator Ankowitsch im ORF Landesstudio

Tingler, der 2001 als Autor beim Bachmannpreis gelesen hatte, fiel mit harschen Urteilen und einem stark an Unterhaltsamkeit und Handlung orientierten Literaturbegriff auf. Er lieferte sich mehrere Wortgefechte, vor allem mit Kastberger, Wilke und Winkels. Tingler brach ungeschriebene Regeln des Bewerbs, etwa als er Haider gleich bei seiner ersten Wortmeldung nach ihrer Lesung direkt ansprach und fragte, was sie mit ihrem Text bezwecke.

Auch die Jury soll nicht gänzlich unbewertet aus dem Bewerb gehen. Deshalb kann das Publikum seit mehreren Jahren auf Literaturcafe.de die Jurorin oder den Juroren des jeweiligen Jahres wählen.

Das Publikum favorisierte dieses Jahr Wilke, die der Literaturkritiker Paul Jandl in seiner Beobachtung des Bewerbs „die gute Fee der Literaturkritik“ nannte, da „ihr hermeneutischer Zauberstab aus jedem Frosch von Text einen Prinzen“ mache.

Die Preise

Für die 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ging es um fünf Preise: den Ingeborg-Bachmann-Preis, gestiftet von der Landeshauptstadt Klagenfurt am Wörthersee, in der Höhe von 25.000 Euro, den Deutschlandfunk-Preis, gestiftet von Deutschlandradio, in der Höhe von 12.500 Euro, den KELAG-Preis, gestiftet von der Kärntner-Elektrizitäts-Aktiengesellschaft, in der Höhe von 10.000 Euro, den 3sat-Preis, gestiftet von 3sat, in der Höhe von 7.500 Euro, und den BKS Bank Publikumspreis, gestiftet von der BKS Bank, in der Höhe von 7.000 Euro.

Seit 2009 vergibt die Landeshauptstadt Klagenfurt am Wörthersee ein Stadtschreiberstipendium in der Höhe von 6.000 Euro. Stadtschreiberin oder Stadtschreiber wird die Gewinnerin oder der Gewinner des BKS Bank Publikumpreises.