Die USA gingen davon aus, dass die Anfang des Jahres um die Ukraine versammelte Feuerkraft der russischen Streitkräfte zu einem großen Teil weiterhin verfügbar sei. Nachdem strategische Ziele in Kiew, Tschernihiw und anderen Teilen des Nordens nicht erreicht und die Russen selbst im Süden bei Mykolajiw zurückgeworfen worden seien, setzten sie nun neue Prioritäten im Osten der Ukraine. Konkret sprach Kirby von beobachteten Konvois nördlich der Stadt Isjum in der Region Charkiw sowie von Anzeichen für Nachschub im Donbas selbst.
„Weil Russland seine Feuerkraft auf einen kleineren Raum konzentriert, gibt es das Potenzial dafür, dass die Kämpfe viel intensiver und länger werden“, sagte Kirby. Ob Russland damit militärischen Erfolg haben wird, werde sich weisen. Die Ukrainer würden sich jedoch tapfer verteidigen.
Kiew meldet 870.000 Zurückgekehrte
Indessen sind laut Angaben aus Kiew rund 870.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt. Derzeit würden 25.000 bis 30.000 Ukrainer täglich zurückkehren, sagte ein Sprecher des ukrainischen Grenzschutzes. Es kämen mittlerweile auch vermehrt Frauen, Kinder und ältere Menschen an, während es sich bei den Rückkehrern in den ersten Wochen des Krieges vor allem um kampfbereite Männer gehandelt habe.
„Sie sagen, dass sie sehen, dass die Situation sicherer ist, vor allem in den westlichen Regionen, und sie können nicht länger im Ausland bleiben“, so der Sprecher. „Sie sind bereit, in ihr Land zurückzukehren und hier zu bleiben.“ Das ukrainische Innenministerium hat vor gut einer Woche die Zahl der Rückkehrer mit 537.000 angegeben.
Selenskyj: Hunderte Vergewaltigungen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf am Dienstag den russischen Streitkräften in der Ukraine schwere Kriegsverbrechen wie massenhafte Vergewaltigungen und Folter vor. „Es wurden Hunderte Vergewaltigungen registriert, auch von jungen Mädchen und sehr kleinen Kindern. Sogar an einem Baby“, sagte Selenskyj bei einer Ansprache per Video im litauischen Parlament.
„In den von den Besatzern befreiten Gebieten wird die Aufzeichnung und Untersuchung der von Russland begangenen Kriegsverbrechen fortgesetzt“, sagte Selenskyj. „Fast täglich werden neue Massengräber entdeckt.“ Aufgrund von Zeugenaussagen sei von „Tausenden und Abertausenden von Opfern“ auszugehen, sagte der ukrainische Präsident. „Hunderte Fälle von Folter. Es werden weiterhin Leichen auf den Straßen und in Kellern gefunden.“
Menschenrechtsorganisationen gehen nach der Auswertung erster Berichte von Opfern davon aus, dass Vergewaltigungen in der Ukraine als „Kriegswaffe“ eingesetzt werden. Russland weist alle Vorwürfe zurück und spricht stattdessen von Falschinformationen und ukrainischen „Provokationen“.
Putin siegessicher
Präsident Wladimir Putin verteidigte indessen am Dienstag den Angriff auf die Ukraine und zeigte sich siegesgewiss: Die Ziele des „militärischen Sondereinsatzes“, wie der Krieg in Russland offiziell heißt, würden erreicht werden. Russland verfolge „klare und edle“ Ziele, ein „Völkermord“ im Donbas habe nicht länger toleriert werden können. Belege für den behaupteten Genozid lieferte er nicht.
Die westlichen Sanktionen würden sein Land nicht vom Kurs abbringen. „Dieser Blitzkrieg, auf den unsere Feinde gesetzt haben, hat nicht funktioniert“, sagte Putin zu den Strafmaßnahmen des Westens. Die Gespräche mit der Ukraine über einen möglichen Waffenstillstand sieht er in einer Sackgasse. Kiew sei von den Vereinbarungen, die bei den Friedensgesprächen in Istanbul getroffen worden waren, abgewichen, meinte Putin laut der Agentur Interfax. Laut Kiew dagegen gehen die Gespräche weiter.
Debatte: Wie verändert der Krieg die Welt?
Seit mehreren Wochen führt der russische Präsident Wladimir Putin Krieg in der Ukraine, und ein Ende ist nicht abzusehen. Die Solidarität mit der Ukraine schweißt Europa und die USA zusammen. Wird die Solidarität innerhalb der EU halten? Muss sich Österreich längerfristig zwischen Neutralität und NATO entscheiden? Und wird sich China auf die Seite Russlands stellen?
Diskutieren Sie mit in debatte.ORF.at!