Moskau geht aber weiter in die Offensive und will die in russische Gefangenschaft genommenen Kämpfer des Asow-Stahl-Werks in Mariupol offenbar zum Faustpfand für ukrainische Zugeständnisse machen. In Kiew wurde der erste russische Soldat wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Und: Ex-Außenministerin Karin Kneissl verzichtet nun doch auf ihr Aufsichtsratsmandat bei Rosneft.
In den im Süden besetzten Gebieten hat Russland begonnen, die Zivilverwaltung mit prorussischen Vertretern zu besetzen. Nun sind der Bürgermeistesr von Enerhodar und sein Leibwächter bei einem mutmaßlichen Sprengstoffanschlag schwer verletzt worden. Enerhodar liegt am Dnjepr in der Oblast Saporischschja. Die am anderen Ufer und Dutzende Kilometer nördlich gelegene Stadt Saporischschja wird weiter von der Ukraine gehalten.
Der Kreml reagierte sehr kurzfristig auf diese Attacke und betonte, die russischen Soldaten müssten bereit sein für weitere „Terrorattacken“. „Unsere Soldaten müssen bereit sein und Maßnahmen ergreifen, um solche Terrorattacken zu verhindern“, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Im Süden ist der Widerstand der Zivilbevölkerung gegen die russische Besatzung besonders stark. Es war bereits von Fachleuten erwartet worden, dass es, sobald Russland versucht, die Zivilverwaltung prorussisch auszurichten, zu guerillaartigen Widerstandsformen kommen könnte.
Asow-Kämpfer werden zu Faustpfand
Der Anführer der prorussischen Separatisten in Donezk kündigte an, dass alle ukrainischen Kämpfer, die sich wochenlang im Asow-Stahl-Werk verschanzt hatten und nun von russischer Seite gefangengenommen wurden, angeklagt werden. Unklar ist, vor welches Gericht sie gestellt und welcher Vergehen sie beschuldigt werden sollen.
Kurz danach hieß es aus dem Moskauer Außenministerium, man schließe Gespräche über einen Gefangenenaustausch mit der Ukraine nicht aus. Bedingung für Verhandlungen – auch die Waffenstillstandsgespräche sind seit Längerem unterbrochen – sei aber eine „konstruktive Antwort“ der Ukraine. Das Ministerium führte nicht näher aus, was es darunter versteht.
Kiew: Keine territorialen Kompromisse
Davor hatte die Ukraine territoriale Kompromisse eindeutig ausgeschlossen. Präsidentensprecher Andrij Jermak schrieb auf Twitter: „Der Krieg muss mit der völligen Wiederherstellung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine enden.“ Rückendeckung erhielt Kiew dabei von Polens Präsident Andrzej Duda, der als erster westlicher Politiker seit Kriegsausbruch vor dem ukrainischen Parlament sprach.
Kampf um Sjewjerodonezk
Russland konzentriert seine militärischen Bemühungen derzeit vor allem auf die Oblast Luhansk im Donbas. Dort werden inzwischen nur noch die durch einen Fluss getrennten Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk von der Ukraine kontrolliert. Laut Kiew werden ukrainische Truppen an dieser Front mit russischer Artillerie beschossen.
Laut dem Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj, wird vor allem Sjewjerodonezk wahllos mit Artillerie beschossen. Moskau verfolge eine Strategie der „verbrannten Erde“. Laut ukrainischem Generalstab ist es russischen Truppen bisher nicht gelungen, Ortschaften nördlich, östlich und südlich von Sjewjerodonezk zu stürmen. Hajdaj zufolge wurden mehrere Ortschaften von Russland erobert.
Selenskyj räumt hohe Verluste ein
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selnskyj räumt derweil hohe Verluste bei den Kämpfen im Osten ein. 50 bis 100 Soldaten würden derzeit an einem Tag ums Leben kommen. Das Londoner Verteidigungsministerium schätzt unterdessen, dass Russland in drei Monaten Krieg gegen die Ukraine ähnlich viele Soldaten verloren hat, wie die Sowjetunion während neun Jahren Besatzung in Afghanistan. Damals kamen etwa 15.000 Soldaten ums Leben.
Diplomat: „Genug ist genug“
Mit scharfen Worten gegen den Kreml quittiert der höherrangige russische Diplomat Boris Bondarew am UNO-Sitz in Genf seinen Dienst. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine sei ein Verbrechen am ukrainischen und am russischen Volk, schreibt der Botschaftsrat heute auf der Plattform LinkedIn. Diejenigen, die diesen Krieg geplant hätten, wollten ewig an der Macht bleiben, in geschmacklosen Palästen leben und auf Jachten segeln, kritisiert er. „Dafür sind sie bereit, so viele Leben zu opfern wie nötig.“
Im russischen Außenministerium hätten Desinformation und Propaganda ein Ausmaß erreicht, das an die Sowjet-Zeit der 1930er Jahre erinnere, schreibt er in Anspielung auf die Herrschaft unter Diktator Josef Stalin. Im Ministerium gehe es nicht mehr um Diplomatie. „Es geht um Kriegstreiberei, Lügen und Hass.“ Und: „Genug ist genug“, schreibt Bondarew und verkündet nach 20 Jahren in seinem Beruf den Austritt aus dem öffentlichen Dienst.
Kneissl folgt Schröder
Wenige Tage nach dem deutschen Ex-Kanzler Gerhard Schröder zieht auch Ex-FPÖ-Außenministerin Karin Kneissl die Notbremse: Laut dem staatlichen russischen Ölkonzern Rosneft hat Kneissl den Aufsichtsratsposten zurückgelegt. Seit Wochen hatte es scharfe internationale Kritik daran gegeben, dass sie den Posten in dem mit westlichen Sanktionen belegten Unternehmen nicht zurücklegt.
Der erste von und in der Ukraine eingeleitete Kriegsverbrecherprozess gegen einen russischen Soldaten endete mit einem Schuldspruch: Der 21-jährige Soldat, der nun verurteilt wurde, hatte einen 62-jährigen Zivilisten erschossen.
Weltweiter Rekord an Flüchtlingen
Laut UNO sind mehr als 6,5 Millionen Menschen mittlerweile aus der Ukraine geflüchtet. Zwei Millionen kehrten kurzfristig oder fix wieder zurück. Der Krieg führt aber auch weltweit zu einem traurigen Rekord: Erstmals in der Geschichte gibt es laut UNO mehr als 100 Millionen Flüchtlinge auf der Welt. „Das ist ein Rekord, der niemals hätte erreicht werden dürfen“, mahnte UNO-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi, der diese Höchstzahl auch auf den Ukraine-Krieg zurückführt.
Debatte: Wie Frieden erreichen?
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine nimmt kein Ende – eine Lösung ist nicht in Sicht. Wie kann Russlands Präsident Wladimir Putin an den Verhandlungstisch geholt werden? Wie lässt sich Frieden besser durchsetzen: mit militärischer Stärke oder Diplomatie? Wiederholen sich jetzt die Debatten des Kalten Krieges?
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