Plakat des Films „Searching“
2018 Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH
„Searching“

Kino sucht das Böse im Netz

Vor zwanzig Jahren war in der romantischen Komödie „e-m@il für Dich“ zum ersten Mal das Internet zentraler Schauplatz eines Films. Mittlerweile wird auf der Leinwand ganz selbstverständlich gesimst, gechattet und in Soziale Netzwerke gepostet. Der smarte Desktop-Thriller „Searching“ dreht die Schraube jetzt noch ein Stück weiter – und sucht das Böse im Netz.

Nora Ephrons „em@il für Dich“ („You’ve Got Mail“) gehört zu den Samstagabend-Kuschelklassikern. Zuverlässig läuft er alle paar Monate irgendwo im Fernsehen. Meg Ryan spielt eine New Yorker Buchhändlerin und Tom Hanks ihren gehassten Rivalen. Doch gerade diese beiden Kontrahenten flirten nichtsahnend miteinander. Möglich macht das in der romantischen Komödie aus dem Jahr 1998 das neue Medium Internet, das Mann und Frau unter Pseudonymen im digitalen Raum zusammenführt, wo sie einander Mails schreiben und – wie es das Genre will – sich ineinander verlieben.

Internet 1998 als Ort der Unschuld

„E-m@il für Dich“ war einer der ersten Kinofilme, die versuchten, die Kommunikation im virtuellen Raum in Filmbilder zu übersetzen. Während das Modem im Hintergrund schnarrt, sieht man Ryan und Hanks tippen, sieht den Cursor am Monitor blinken, sieht Lächeln und Messages, die geschrieben, gelöscht, wieder geschrieben und dann doch nicht abgeschickt werden. Ephrons Film inszeniert das Internet als aufregend neuen, von gesellschaftlichen Konventionen befreiten Begegnungsraum. Eine schöne Utopie aus einer Zeit, als das Internet noch als Spielwiese für gesellschaftlichen und politischen Fortschritt gehandelt wurde.

Szene aus dem Film „Searching“
2018 Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH
Szene aus „Searching“

Heute sieht die Sache anders aus, wenn Kino und Internet kollidieren. Zu viel ist in der Zwischenzeit passiert. Wer ans Internet denkt, denkt vielleicht auch an dessen dunkle Seiten, an Gewaltvideos, Cybermobbing, Hasspostings und Kinderpornografie. Entsprechend dunkel ist die Handlung des Desktop-Thrillers „Searching“, der diese Woche ins Kino kommt. Die verzweifelte Suche eines Vaters nach seinem Kind erzählt er ausschließlich über digitale Nutzeroberflächen – und spannend wie Hitchcock.

Nur Spuren im Netz

„Searching“ beginnt mit einer Reihe von Erinnerungsvideos, die jemand auf einem Computer abspielt: der erste Schultag eines Mädchens. Die erste Klavierstunde. Der Tod der Mutter, der sich durch eine Google-Suche nach dem Begriff „Lymphdrüsenkrebs“ ankündigt. Schließlich mündet die Erzählung in die diesmal ganz wörtliche Suche des verwitweten Vaters nach seiner Tochter. Nach einem angeblichen Lerngruppentreffen ist der Teenager plötzlich verschwunden. Doch in der Lerngruppe war sie nicht. Nur im Netz hat das Mädchen Spuren hinterlassen. Auf Facebook, Tumblr und YouTube.

Internet 2018 als unüberschaubarer Orkus

Wo das Internet in „e-m@ail für Dich“ noch als Raum der Möglichkeiten präsentiert wird, ist es in „Searching“ zum Orkus geworden – ein finsterer Ort voll dunkler Geheimnisse, der unvorsichtige Wanderer verschlingt. Und auch das 1998 noch so schöne Spiel mit den Identitäten scheint 2018 alles andere als harmlos. Die Freundin, mit der die Tochter zuletzt chattete, ist nicht, was sie vorgibt. Ihr Profilfoto auf der Livestream-Plattform „You Cast“ stammt aus einer Stock-Image-Datenbank, und auch der Name ist gestohlen. Aber mit wem teilte die Tochter – vertrauensvoll wie Hanks und Ryan – ihre innersten Gedanken?

Wie schon der US-Horrorfilm „Unknown User“ aus dem Jahr 2014 erzählt „Searching“ die Spielfilmhandlung in kompletter Länge nur über eine Desktop-Oberfläche. Und dieser Kunstgriff gelingt Regisseur Aneesh Chaganty mit erstaunlicher Eleganz. Den Vergleich mit Hitchcock, der einen Thriller („Rope“) in einer einzigen Einstellung drehte, ohne dass man ihm die Anstrengung angemerkt hätte, braucht „Searching“ nicht zu scheuen. Sein Vorhaben ist ungleich komplizierter und doch hält er stets die Spannung.

Laptop aus, Story aus

Auch wenn Chaganty (wie im Übrigen auch Hitchcock) manchmal trickst und unlogische Kamerabewegungen einbaut, bleibt er im Großen und Ganzen konsequent. Die Handlung findet ausschließlich online statt. Entsprechend endet der Film just in dem Moment, in dem der Computer runtergefahren wird. Monitor aus. Story aus. Auf Facebook und im Kino auch. So einfach ist das.

Aber natürlich gab es zwischen 1998 und 2018 Zwischenstadien, Filme, die die Kommunikation im Internet – auf Facebook und Twitter, in Mails und Chats – auf ihre Art zu integrieren versuchten: Der Online-Gaming-Thriller „Nerve“ aus dem Jahr 2016 gehört zu den gelungeneren Beispielen. Totalen der Stadt New York werden hier von einer Augmented Reality überlagert, wie sie die internetruhmsüchtigen Teenager (Emma Roberts, Dave Franco) auf ihren Smartphones sehen.

Haneke und die Moral des Netzes

Aber auch Michael Haneke, der bekanntermaßen nie sehr optimistisch in die Welt der neuen Medien blickt, baut gerne Onlinemomente in seine Filme ein. In „Happy End“ nutzt er das Handy eines Teenagers, um dessen wahre Gedanken – in einem selbst gedrehten und online gestellten YouTube-Clip – sichtbar zu machen. Lustigerweise ist die Grundfrage in Hanekes allzu moralisierendem „Happy End“ die gleiche, die der rasante Thriller „Searching“ formuliert, und die lautet etwa wie folgt: Was ist das bloß für eine Welt, in der wir unsere intimsten Gedanken lieber mit Unbekannten teilen als mit der eigenen Familie?