Szene aus „Jugend ohne Gott“
SF/Arno Declair
„Jugend ohne Gott“

Ein Kommissar dreht um

Mit einer sehr dichten Adaption von Horvaths „Jugend ohne Gott“ ist am Sonntag das Schauspielprogramm der Festspiele gestartet. In der Parabel über Mitläufer und Courage findet „Tatort“-Kommissar Jörg Hartmann als Lehrer (zu) spät den Weg vom Opportunismus zur Wahrheit. Die Inszenierung von Thomas Ostermeier wurde minutenlang gefeiert – als gelungenes Ensemblestück mit feiner Schauspielarbeit.

„Jugend ohne Gott“ entstand nur wenige Kilometer vom Schauplatz der Festspielpremiere, in Henndorf bei Salzburg, wo Ödön von Horvath nach seiner Emigration aus Deutschland Unterschlupf fand. Nach vorherigen Versuchen der Anpassung und des Andienens an die NS-Propagandamaschine wurde Horvaths dritter Roman zum Befreiungsschlag. Als dicht komprimiertes Generationenporträt und vernichtende Gesellschaftskritik ist „Jugend ohne Gott“ – in Amsterdam erschienen, in Nazi-Deutschland 1938 verboten – damit quasi das antifaschistische Outing des Autors, das seit den 1950er Jahren zur Pflichtlektüre an deutschsprachigen Schulen gehört.

„Kein Interesse“ an Aktualisierung

Schaubühnen-Intendant Ostermeier bringt seine mit dem Dramaturgen Florian Borchmeyer erarbeitete Fassung ohne Aktualisierung (wenn man vom Austausch des Wortes „Neger“ durch „Afrikaner“ absieht) oder Zeitbezüge auf die Bühne und lässt das Werk in seiner Entstehungszeit angesiedelt. Er habe „kein Interesse daran, es wie eine Schablone auf die Gegenwart zu legen und die einzelnen Phänomene zu übertragen“, so der Regisseur. Nicht, weil es die Parallelen nicht gäbe, sondern weil er dem Publikum offenbar zutraut, sie selbst zu dechiffrieren: „Immer auch auf die Gefahr hin, feststellen zu müssen, dass man vielleicht schon den opportunistischen Weg im Umgang mit den Konfliktlinien unserer Zeit eingeschlagen hat.“

Szene aus „Jugend ohne Gott“
SF/Arno Declair
Jörg Hartmann (M.) findet als Lehrer erst am Ende des Stücks zur Wahrheit

Vom „Tatort“-Kommissar zum Lehrer

So steht der Dortmunder „Tatort“-Kommissar Hartmann als Lehrer im aufkommenden Nationalsozialismus auf der Bühne – für Horvath „nur ein Mensch, der möchte, dass seine Krawatte richtig sitzt“. Rund um ihn gehirngewaschene Schüler in kurzen Hosen, desinteressierte Mütter, denunzierende Väter und schulterzuckendes Mitläufervolk.

Zwei Schauspielerinnen (Veronika Bachfischer und Alina Stiegler) und fünf Schauspieler (Bernardo Arias Porras, Damir Avdic, Moritz Gottwald, Laurenz Laufenberg und Lukas Turtur) – allesamt junge Ensemblemitglieder der Schaubühne – schlüpfen neben Hartmann in die gut 40 weiteren Rollen, auf die der Text des Romans aufgeteilt wurde.

Hinweis

„Jugend ohne Gott“, eine Koproduktion mit der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, ist bei den Salzburger Festspielen noch am 30. Juli sowie am 1., 4., 7., 9., 10. und 11. August jeweils um 19.30 Uhr im Landestheater zu sehen.

Humanismus vs. Nationalsozialismus

Vom Schulalltag, in dem die Schüler den Lehrer bespitzeln, weil er mit humanistischen Argumenten der Regimedoktrin widerspricht, bis zum Mordkrimi im Wald bleibt die Theaterfassung sehr nah am Roman. Satz für Satz, sehr oft mit schnellen Rollenwechseln und kluger Aufteilung der inneren Monologe, haben Ostermeier und Borchmeyer eine Aneinanderreihung schneller Schnitte geplant.

Die Ensemblemitglieder folgen der Dramaturgie hochkonzentriert, springen auf offener Bühne in die wechselnden Kostüme (Angelika Götz), treten an die Rampe vor zwei aufgebaute Mikrofone, um die innere Stimme des Lehrers dort zu übernehmen, wo es Sinn hat. Dialoge und Monologe gehen nahtlos ineinander über und greifen recht organisch ineinander, dank genauer Personenführung zwar komplex, aber nie verwirrend.

Szene aus „Jugend ohne Gott“
SF/Arno Declair
Alina Stiegler beeindruckt als Mädchen Eva, Anführerin der Räuberbande

Der Wald des Verbrechens

Auch die Bühne (Jan Pappelbaum) passt sich der fast filmischen Geschwindigkeit in den Abläufen mühelos an. Im Hintergrund droht ein laubloser Wald, düster und dicht verästelt, bedrohliche Kulisse nächtlicher Sextreffen und spionierender Gespenster, später der Schauplatz des Mordes und das Versteck des Mörders.

TV-Hinweis

„KulturMontag“ berichtet am Montag ab 22.30 Uhr in ORF2 live aus Salzburg über „Jugend ohne Gott“ sowie viele andere Premieren der Festspielsaison.

Im Vordergrund reichen wenige Elemente, um die zahlreichen Schauplätze der Erzählung anzudeuten: Ein Tisch wird zu Wirtshaus und Eissalon, ein paar Pulte zur Schule, ein Bett zur Kammer, ein Zelt zum Jungnazi-Bootcamp. Von den Schauspielerinnen und Schauspielern selbst auf offener Bühne umgebaut, springt der Spielort damit genauso mühelos zwischen den Miniszenen, wie es dem Ensemble mit dem Text gelingt.

Sparsam eingesetzte Livevideotechnik – mit Projektionen auf die jeweils gerade vorhandenen Bühnenelemente – hilft dort, wo die Schauspielkunst Unterstützung braucht. In manchen Momenten hilft das Vergrößerungsglas, vor allem dann, wenn es genau darum geht zu ergründen, was hinter der Fassade steckt: Die äußerliche Ruhe ist eine mühsam hochgehaltene Contenance, spricht etwa das Gesicht des Lehrers.

Jörg Hartmann als Lehrer in „Jugend ohne Gott“
SF/Arno Declair
Kurze Hosen machen aus jungen Schauspielern Jugendliche

Form schlägt Funktion

Nicht ganz zweieinhalb Stunden ohne Pause dauert die Inszenierung, an deren Ende man sich eigentlich nicht fragen darf, was das alles mit uns zu tun hat. Ostermeiers nicht ganz origineller Plan der selbsterklärenden Gegenwartsbezüge funktioniert mit Horvath noch immer: Nicht umsonst analysieren weiterhin Heerscharen an Schülerinnen und Schülern das Stück im Unterricht. Dass der Theaterabend letztlich vom Premierenpublikum mit langem und herzlichem Applaus bedacht wurde, galt deshalb wohl mehr der Form – dem hochkarätigen Schauspiel – als der Funktion.