Szene aus „Sommergäste“
Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
„Sommergäste“

Wilder Trip im Paternoster

Die Uraufführung von Maxim Gorkis gesellschaftskritischem Stück „Sommergäste“, kurz vor der Russischen Revolution 1905, war einst ein Skandal. Bejubelt wurde hingegen die Premiere der Neuinszenierung von Evgeny Titov am Mittwoch in Hallein: Einmal mehr wird darin der Gesellschaft der Spiegel vorgehalten. Auf der Bühne, die ständig in Bewegung ist und an einen Paternoster erinnert, wird philosophiert, gefeiert – und viel getrunken.

Gorki wollte in seinen „Sommergästen“ vor allem eine Botschaft verpacken: Er kritisierte darin das Bürgertum, das in seinen Augen primär mit sich selbst beschäftigt war, und inszenierte das Spiegelbild als großen Stillstand. Mit der aufgeladenen Stimmung im Vorfeld der Revolution kam es zu Unterbrechungen, in denen unter anderem der Sturz der Regierung gefordert wurde. „Die Aufführung der ‚Sommergäste‘ war ein Skandal, und ich bin zufrieden. Das Stück ist nicht besonders, aber ich habe getroffen, wohin ich gezielt habe“, zitiert Dramaturgin Janine Ortiz den russischen Schriftsteller.

So passiert, rein quantitativ betrachtet, relativ wenig: Grundlage ist die Sommerfrische dreier Ehepaare und einiger weiterer Bekannter in einer russischen Datscha. Sie stammen aus einer Schicht Intellektueller: ein Rechtsanwalt (Primoz Pirnat), ein Ingenieur (Sascha Nathan), ein Arzt (Matthias Buss), ein Schriftsteller (Thomas Dannemann) – und die jeweils dazugehörigen Frauen, wie sie in Gorkis Stück beschrieben werden. Viel Alkohol und noch mehr Worte führen dazu, dass sich Abgründe zwischen den Figuren auftun, je weiter die Handlung fortschreitet.

Genija Rykova und Thomas Dannemann in „Sommergäste“
Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Ganz in Rot: Warwara Michajlowna (Genija Rykova) setzt auf die Unterstützung von Schriftsteller Schalimow (Thomas Dannemann)

„Sommergäste“ fernab der Revolution

Aber, und deswegen hört man heutzutage vergleichsweise wenig von den „Sommergästen“: In erster Linie ist Gorkis Stück mit den Ereignissen der kurz darauf folgenden Revolution verbunden. Das hält Titov, der praktisch in letzter Minute für die erkrankte Mateja Koleznik eingesprungen ist, aber nicht ab, die zeitliche Bindung für seine Inszenierung aufzutrennen. Die Datscha wird zum Treffpunkt der Bussi-Bussi-Gesellschaft umfunktioniert – Stillstand, Zynismus und Selbstverliebtheit sind unterdessen sowieso zeitlos.

Während der Großteil der Gesellschaft in Alkohol und Selbstmitleid versinkt, kommen in Gorkis Stück und auch in Titovs Neufassung zwei Frauen ganz wesentliche Rollen zu. Sowohl Warwara Michajlowna (Genija Rykova), die Frau des Rechtsanwaltes, und Ärztin Marja Lwowna (Marie-Lou Sellem), die als einzige Frau von Gorki mit einer Berufsbezeichnung versehen wurde, versuchen die resignierende Gesellschaft zu verändern, zu bewegen – und sich damit vom „Beiwerk“ der restlichen Frauen abzusetzen. Es sollen bei der Premiere auf der Halleiner Perner-Insel jene zwei Figuren sein, die auch am besten in Erinnerung bleiben.

Techno und Comedy

Sosehr dieses ständige Gefühl von Ausweglosigkeit Gorkis Vorlage beherrscht, so sehr inszeniert Titov mit einer großen Portion Leichtigkeit und baut Witz ein: Vor allem durch ständiges Überzeichnen der Charaktere wird das Geschehen aufgelockert. Julija Filippowna (Dagna Litzenberger Vinet), die Frau des Ingenieurs, tanzt mehr, als sie geht, Arztfrau Olga Aleksejewna (Mira Partecke) wird gar zu einer Figur, die aus der Sketch-Comedy kommen könnte. Gut in Erinnerung bleibt auch eine Partyszene, in der minimalistische Technobeats die Menge auf engstem Raum zum Tanzen bringen.

Szene aus „Sommergäste“
Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Die Welt steht vor Problemen, die die Sommergäste aber nicht vom Tanzen abhalten

Bühnenbild hält „Sommergäste“ in Bewegung

Und: Hallein hat mit den „Sommergästen“ auch das wahrscheinlich bisher aufwendigste Bühnenbild bekommen. Zwar übernahm Titov die von Raimund Orfeo Voigt erstellte Kulisse von seiner Vorgängerin – ohne zu wissen, wie ihre Version ausgesehen hätte, ist die Bühne für den nunmehrigen Regisseur Titov jedenfalls ein tragendes Element.

Hohe Räume auf der einen Seite und Holzverkleidung auf der anderen dominieren die visuelle Ebene – die Datscha könnte ebenso ein moderner Tempel sein. Ein technisches Gimmick sticht erst nach Minuten ins Auge, als die Bühne zwar verändert aussieht – aber kein Vorhang dafür fiel. Denn erst bei genauem Hinschauen zeigt sich, dass die Bühne stets in Bewegung ist – ganz langsam, analog zum erzählerischen Aufbau des Stücks. Fährt ein Teil der Kulisse aus dem Aufführungsraum, wird er auf der anderen Seite angehängt – mitsamt der Holzverkleidung und der geringen Geschwindigkeit werden Erinnerungen an einen Paternosteraufzug wach.

Szene aus „Sommergäste“
Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Hohe Räume und Holzverkleidung bestimmmen das Bühnenbild, das ständig in Bewegung ist

Und Titov tobt sich auf der Bühne aus: Er hat etwa kein Problem damit, sein Ensemble in den kleinsten „Abteilen“ der Bühne zu versammeln. Parallele Handlungen werden zusätzlich von ein paar subtilen, aber effizienten Lichteffekten kontrastiert. Dadurch fällt der Vorhang als trennendes Element weg, auch auf eine Pause wird verzichtet – insgesamt dauert die Neuinszenierung damit etwas über zwei Stunden.

Hinweis

„Sommergäste“ wird im Rahmen der Salzburger Festspiele bis zum 8. August noch sieben weitere Male aufgeführt. Die Vorführungen finden jeweils um 19.30 Uhr auf der Perner-Insel in Hallein statt.

Große offene Fragen für den Heimweg

In den ersten zwei Dritteln steht vor allem die Gruppendynamik der Charaktere im Fokus: Angesichts der Fülle an Figuren – oft tummeln sich über zehn Darstellerinnen und Darsteller gleichzeitig auf der Bühne – ist die eigentliche Handlung nur mit höherem Aufwand gut mitzuverfolgen.

Gegen Ende wendet sich die Handlung aber ohnehin in Richtung Publikum, indem die omnipräsente Aussichtslosigkeit kommenden Herausforderungen gegenübergestellt wird, ohne diese beim Namen zu nennen, und damit auch, ohne direkt zu moralisieren. Auch Antworten werden bis zum Ende nicht geliefert – was wohl für Gesprächsstoff und Denkanstöße im Anschluss sorgen dürfte.

Gorkis „Sommergäste“ sind kein leichter Stoff, den Titov in kurzer Zeit für die Festspiele bearbeitet hat. Am Ende gibt es kräftigen Applaus: Vor allem die schauspielerische Leistung wird vom Publikum ausgiebig belohnt – „Bravo“-Rufe gibt es vor allem für die Darstellerinnen, Rykova und Sellem stachen durch ihre Leistung hervor. Auch das künstlerische Team wurde vom Publikum ordentlich gefeiert: selbst wenn – oder gerade weil – der große Skandal ausblieb – und damit auch keine Revolution unmittelbar bevorstehen dürfte.