Darsteller des Todes im Jedermann in einer Rauchpause
Austrian Archives / Imagno / picturedesk
100 Pieces

Österreich als Welttheater

100 Jahre Salzburger Festspiele durchmessen auch die Geschichte Österreichs seit der Gründung der Ersten Republik. An der Geschichte der Festspiele lässt sich wie kaum anderswo eine Geschichte Österreichs nachzeichnen. Alle politischen Ereignisse, alle Erregungen, alle Abgründe und auch Triumphe des Landes finden sich im Welttheater Salzburg wieder. Das Projekt „100 Pieces“ des ORF-Fernsehens und ORF.at zeigt in den nächsten Wochen ungeahnte Einblicke in die Kultur- und Gesellschaftsgeschichte eines Landes. Im Guten. Wie auch im Boshaften.

Österreich, so hat es ja schon Robert Musil in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ in vielen tausend Seiten skizziert, ist wohl das Gegenteil vom preußischen Gerade-direkt-Heraus. Die Zwischentöne machen die Stimmung in einem Land. Und nicht immer sind diese Zwischentöne leicht zu fassen. „Ich habe den Eindruck, in Österreich geht es nicht um die Sache, sondern darum, um die Sache herumzureden“, hat Schauspieler Maximilian Schell in Salzburg mal seine Erfahrung mit Österreich zusammengefasst.

Maximilian Schell über die Österreicher

Als Hugo von Hofmannsthal und der genialische Theaterimpresario Max Reinhardt die Idee der Salzburger Festspiele von Gedankenspielen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs in die Gründerjahre der Nachkriegszeit führen, suchte man sehr nach Standortbestimmung. Man wollte, wie so oft in der Geschichte Österreichs nicht „deutsch“ sein, aber doch besser als „die Deutschen“. Man wollte sich auf die gemeinsamen Kulturschätze mit den Deutschen beziehen, und sich doch von ihnen unterscheiden. Man wollte das neue Österreich definieren – obwohl man eigentlich eher vage bis antimodernistische Begriffe des Landes hatte, das zur gleichen Zeit, blickt man auf Literatur und bildende Kunst, doch mit Unterbrechung des Weltkriegs bereits tief in die Moderne eingetaucht war.

„100 Pieces“ in drei Minuten

Die Festspiele als Reibebaum

Egal, ob man die Festspiele als „europäisches Friedensprojekt“ definiert – oder in ihnen wie zuletzt Matthias Dusini im „Falter“ das Bollwerk des „reaktionären Geistes“ verortet: Die Festspiele durchmessen in ihrer hundertjährigen Geschichte die Etappen der Geschichte Österreichs: die Identitätsfindung der Ersten Republik, erste Schritte der Internationalisierung am Beginn der 1930er Jahre, die Zeit des Anschlusses und die Indienstnahme der Kunst durch den Nationalsozialismus, die „Stunde null“ und den Umgang mit der Beteiligung an der Elitenkultur des Nationalsozialismus – und schließlich auch: die Identitätsfindung Österreichs nach 1945, die einen nicht gerade reibungslosen Umgang mit der Moderne offenlegt.

Hinweis

„100 Pieces“ sind jeden Sonntag in der ORF-matinee zu erleben und unter ORF.at/100pieces abrufbar.

Die Festspiele und die Debatten der Gesellschaft

Bis in die Gegenwart haben sich an den Festspielen auch alle Debatten des Landes entzündet, die Österreich geprägt haben. Die Waldheim-Debatte ist an den Festspielen ebenso nicht vorbeigegangen wie der Anti-Atom-Protest der frühen 1980er Jahre.

Die Festspiele sind aber am Ende auch das, was sie immer sein wollten: ein Ort, an dem sich Debatten um Rolle und Virulenz der Kunst entzündet haben. Thomas Bernhard und Peter Handke haben die Festspiele als Bühne für ihr Schaffen – und auch die Internationalisierung ihres Werkes genutzt. Elfriede Jelinek versuchte in ihrer Festspielbeteiligung, die Stimme der Gegenwartsliteratur zu erheben. Nicht zuletzt haben Autoren wie Bernhard und Regisseure wie Claus Peymann den Festspielen legendäre Momente beschert, man denke nur an den „Fliegenkrieg“ rund um die Premiere des „Theatermachers“.

Bernhard, Peymann und der „Fliegenkrieg“

Der Blick auf die Geschichte der Festspiele ist nicht museal, wie auch ein Blick auf die nun gestartete Salzburger Landesausstellung „Großes Welttheater“ zeigt.

„100 Pieces“: Hundert Stationen zur Geschichte

Der ORF zeigt mit dem Projekt „100 Pieces“ nicht nur einen kleinen Vorgeschmack in Richtung ORF-Player. In einer intensiven Zusammenarbeit zwischen ORF-TV-Kultur, ORF-Archiv und ORF.at ist ein TV-Format in der ORF-„matinee“ geworden wie ein digitales Zeitenmosaik, das in hundert Einzelstücken Zeitgeschichte als Erlebnis schreiben möchte. Einblicke in die ersten Gehversuche dieses Festivals finden sich da ebenso wie die Auftritte der großen Stars, die Ankunft von Arturo Toscanini und Marlene Dietrich in Salzburg.

„This is shit, this should be banned“

Der Abschied von der Ära Mortier wurde vom Skandal um „Die Fledermaus“ garniert

Festspiele als Mediengeschichte

Es wird an die Mediengeschichte erinnert, denn die Festspiele waren sowohl für den Rundfunk mit der ersten Radio- und TV-Liveübertragung Meilensteine in der Rundfunkgeschichte. Und nicht vorbei kommt man an allen Skandalen und Skandälchen, die die Festspiele nun auch ausmachen.

Stücke mit illustren Größen

Mit dabei bei den „100 Pieces“ sind so illustre Größen wie selbst ein Nikita Chruschtschow wird sich bei uns im Bild verirren. Liebevoll hat die ORF-Archivarin Silvia Heimader gemeinsam mit Cutter Willy Leitgeb die ersten 85 Stücke Salzburger Festspielgeschichte ausgegraben.

Nicht „Lernen Sie Geschichte“, sondern „Erleben Sie Geschichte“ ist das Motto der „Pieces“. Oder wie ORF-Programmdirektorin Kathrin Zechner bei der Vorstellung der „Pieces“ Anfang Juni in Wien meinte: „Wer lernen möchte, wie man sich Nettigkeiten über die Medien ausrichtet und dabei präzise trifft, der möge sich nur die Josef-Meinrad-Otto-Schenk-Kontroverse anschauen.“

„Meinrad war die beste Thisbe“: Schenk stichelt zurück

Den ganzen Sommer wird ORF.at über „100 Pieces“ die Geschichte der Festspiele weiter schreiben. Nicht nur zu Salzburg. Sondern auch zu Österreich. Speziell wird der Sommer 2020 in jedem Fall.