Archivschrank mit Musikladen
ORF

Ein Archivschrank wird zur Zeitmaschine

Runde Geburtstage, zumal besonders runde, sind Sternstunden des Archivs. Im Glücksfall ist das Archivmaterial so gut, dass damit Erlebnisräume erschlossen werden. In Salzburg sorgt in diesen Tagen ein Schubladenschrank für Aufsehen, der die Tongeschichte der letzten hundert Jahre inszeniert. Jeder kann dabei nur mit dem Aufziehen der Laden sein ganz eigenes Welttheater erschaffen. Oder eine Zeitreise in der Remix-Form gestalten.

Alles ist Welttheater dieser Tage in Salzburg. Und mit einigem Trotz stellen sich die Festspielmacher gegen die Zwänge der Coronavirus-Pandemie, um doch auch den Gründervätern des Festivals gerecht zu werden: gegen die Zumutungen der Zeit den Traum von der künstlerischen Großtat zu verwirklichen. Und sich nicht nur von den Überlebenszwängen bestimmen zu lassen.

Wer in die nun unter schwierigen Bedingungen gestartete Landesausstellung „Das große Welttheater“ schaut, erlebt nicht nur, wie tatsächlich der wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Status einer Stadt von einer Kulturinstitution geprägt wurde; wie ein mittelerfolgreiches Stück der 1910er Jahre wie der „Jedermann“ am richtigen Ort und dem, was man heute setting nennt und früher mal als genius loci bezeichnet hätte, zum Publikumsmagneten im Stadionformat werden konnte. Was die Buhlschaft trägt und wer in diesem Jahr der Jedermann ist, das sind in Österreich mittlerweile Staatsangelegenheiten, zu der tatsächlich jedermann und jede Frau eine Form der Meinung hat – und selbst, wenn es eine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit sein mag.

Modell der Salzburger Festspiel für den Schlosspark von Hellbrunn
Gerald Heidegger / ORF.at
Was wäre Salzburg ohne die Festspiele? Installation am Eingang der Landesausstellung „Das große Welttheater“ mit dem Modell des ersten geplanten Festspielhauses für den Schlosspark Hellbrunn.

Der Mut zur Größe

Das Salzburg Museum zeigt, wie viele Tonnen Stein gesprengt und bewegt wurden, um einer Kulturinstitution den richtigen Ort zu geben. Wie Clemens Holzmeister in den 1950er Jahren zusammen mit Herbert von Karajan tatsächlich nach dem Festspielhaus im Welttheaterformat suchte, weil man eben das beste Gebäude für die Kunst haben wollte. Gegen die Orientierungslosigkeit der Zeit wollte man schon zu Beginn einen durchaus gigantomanisch anmutenden Markstein setzen, etwa wenn man auf den ersten Entwurf für ein Festspielhaus auf den Wiesen von Hellbrunn schaut. Bayreuth sollte neben Salzburg verblassen.

Der Mönchsberg und das neue Festspielhaus

All das lässt Salzburg bei vielen heute noch als dekadent oder einfach auch größenwahnsinnig dastehen – doch es zeigt, wie sehr ein Land in seiner Identitätssuche eben auf den Schlüssel der Kultur setzte. Um von Anfang an das andere und zugleich bessere Deutsche zu sein. Und sich nach dem Krieg damit bequem von den Deutschen, die ja den Nationalsozialismus gebracht hatten, unterscheiden zu können. All das erzählt diese von der Kuratorin und langjährigen Festspielgestalterin Margarethe Lasinger kuratierte Schau, die nun doch ein ganzes Jahr zu sehen sein wird.

Hinweis

ORF.at zeigt gemeinsam mit dem ORF-TV bis Ende August „100 Pieces“, zu sehen jeden Sonntag in der ORF-„matinee“ und in ORF.at/100pieces.

Nichts wird in dieser Ausstellung, die eine Zeitreise zur österreichischen Geschichte in unzähligen, eindrücklichen Exponaten darstellt, ausgelassen. Auch nicht der schwierige Umgang mit der Moderne in Salzburg und Österreich im Allgemeinen. Ebenso wird an den ausweichenden Umgang mit der Nazi-Zeit nach 1945 erinnert, etwa bei Festspielgrößen wie Karajan.

Die Skandale, die immer wieder Gegenstand der Salzburger Festspiele waren, sie lesen sich eben als Seismograf einer gesellschaftlichen Entwicklung. Ein Projekt der nationalen Selbstbestätigung ist am Ende zum Lackmustest gerade auch für die Internationalität und Weltgewandtheit eines kleinen Landes in der Mitte von Europa geworden.

Ein Rundgang durch die Landesausstellung

Börsencrash, Hitler-Einmarsch, Flüchtlingskrise, Pandemie – die Salzburger Festspiele haben seit 1920 einiges erlebt und sich doch nie vom Kurs abbringen lassen. Dem „großen Welttheater“ setzen die Festspiele gemeinsam mit dem Salzburg Museum in der Landesausstellung ein Denkmal.

Ein Schrank spielt alle Stückeln

Was aber das große Welttheater zu einem typischen österreichischen Projekt macht, und davon erzählt die Ausstellung auch, das sind die unzähligen kleinen Preziosen – quasi als „kleine Nachtmusik“ zur großen Welttheater-Tour-de-Force. Wenn man den größten Raum mit den meisten Exponaten dieser Schau durchlaufen hat, steht man am Ende vor einem Ladenschrank mit 128 Schubladen.

Das „Polyphon“ („die Mehrstimmigkeit“) nennt sich das vom langjährigen Leiter der Ö1-Musikredaktion im Landesstudio Salzburg, Hannes Eichmann, gestaltete Projekt, das in 128 Laden 100 Jahre Geschichte der Festspiele in Tondokumenten versammelt hat. Nichts ist chronologisch sortiert, sondern alles zufällig in diesem Baukasten historischer Tondokumente. „Der Schrank mit den nummerierten Laden ist das kleine Polyphon, das der Komponist Peter Androsch für die Kulturhauptstadt Linz 2009 entwickelt hat“, sagte Eichmann im Gespräch mit ORF.at – und fügte lachend hinzu: „Gott sei Dank verwenden wir nicht das große Polyphon mit den 672 Laden; da wäre die Archivauswahl deutlich schwerer geworden.“

Frau öffnet Laden des Polyphon
ORF
Eine Reise durchs Audioarchiv, bei der man selbst tätig sein muss (unter Coronavirus-Bedingungen in der Ausstellung mit Handschuhen)

3.000 Soundfiles zur Geschichte der Salzburger Festspiele hat Eichmann für seinen Klangkasten durchforstet. „Mitunter“, so erzählte er, „waren da auch Tonbeispiele dabei, die vom Mopedunfall eines Festspielmitarbeiters erzählten.“ Ob er so etwas wie ein Lieblingsstück aus der Geschichte der Festspiele habe? „Nein, eigentlich jeden Tag ein anderes – oder haben Sie etwa eine Lieblingsoper?“

Neugierde und das Moment, sich überraschen zu lassen, sollen die Entdeckungsreise durch das große Salzburger Ladenwelttheater leiten. Und, so verriet Eichmann, die Lade 128 sei ein Klangrätsel. Wer dieses entdecken will, muss sich freilich in die Ausstellung begeben. Denn wenn man heute vieles virtuell erleben kann und wegen der Coronavirus-Krise muss, so erschließt sich gerade diese Audiozeitmaschine, die Ton- wie Musikdokumente versammelt, eben durch das analoge Bedienen des digitalisierten Archivmaterials. Eine Art Handorakel zur Zeitgeschichte ist da entstanden. Und eines, das gerade auch die Mediengeschichte, die die Salzburger Festspiele etwa mit der ersten RAVAG-Übertragung geschrieben haben, intuitiv erlebbar macht.

Und noch ein Remix aus dem Archiv

Sollte das Salzburg Museum erweitern und einen Platz für das Best-of dieser Schau finden, dann könnte sich Salzburg ein Stück erlebbare Kulturgeschichte im Erlebnisformat schenken. Vieles, was Position und Rang dieser Stadt bestimmt, verdankt sich der Festspielvision der Gründungsväter. Das Welttheater, es schreibt sich ja gerade unter den Bedingungen des Coronavirus weiter. Und erinnert Salzburg daran, dass es den Zwängen der Zeit immer ein Stück weit trotzen wollte.