Szene aus „Jedermann“
Salzburger Festspiele/Matthias Horn
Wetter, Wut und wenig Neues

Ein „Jedermann“ mit Alterserscheinungen

Menschenaufläufe sollte es virusbedingt auch bei den Festspielen natürlich keine geben – und doch musste die Premiere des „Jedermann“ am Samstag wegen eines Gewitters mit einem Umzug vom Domplatz ins Festspielhaus beginnen. Unter Dach erlebte man Tobias Moretti in seinem letzten „Jedermann“-Jahr wütender als zuvor – und mit Caroline Peters eine neue Buhlschaft, die ihm das Wasser reichen kann.

Wie Schauspielchefin Bettina Hering in ihrer kurzen Ansprache vor Beginn – anlässlich des Wetterpechs – formulierte, hat „der ‚Jedermann‘ schon viele Stürme erlebt und überlebt“, für die nunmehr im vierten Jahr gezeigte Inszenierung dürfte das nicht gelten. Es mag an der fehlenden Domatmosphäre gelegen sein, am vorschriftsgemäß halb leeren Zuschauerraum oder eben daran, dass die Inszenierung Michael Sturmingers trotz mehrerer Updates nicht ganz so gut zu altern scheint: So ganz gezündet hat die Premiere nicht, darüber konnte auch ein langer und freundlicher Applaus nicht hinwegtäuschen.

Und es ändert sich auch nicht dadurch, dass Moretti heuer den Läuterungsprozess immer wieder auch aufbrausender gestaltet – die grundsätzlich grüblerische Misanthropie aus seinen „Jedermann“-Anfängen hat er seiner Figur zugunsten eines deutlicheren Jähzorns abgerüstet.

Die dritte Frau in vier Jahren

Nicht unstimmig ist analog zu seiner Entwicklung der hohe Partnerinnenverschleiß – nach Stefanie Reinsperger und Valery Tscheplanowa ist mit Peters schon die dritte Frau an Morettis Jedermann-Seite. Sie wird auch seine Letzte bleiben – kurz vor Beginn der Festspiele gab Moretti bekannt, dass er die Rolle heuer zum letzten Mal spielen werde – die Spekulation über mögliche Nachfolger darf beginnen!

Szene aus „Jedermann“
Salzburger Festspiele/Matthias Horn
Happy Birthday, „Jedermann“!

Selbstbewusste Buhlschaft

Zurück zur Buhlschaft: Im nudefarbenen Glitzerkleid legt Peters nun einen Marilyn-Monroe-Auftritt hin, klettert für ein Geburtstagsständchen auf eine Torte und lässt nicht die geringsten Zweifel daran aufkommen, dass sie eine Frau ist, die weiß, was sie will: den schicken, reichen Jedermann als Boyfriend, und wenn er ihr ein tolles Haus (bzw. den umgebauten Dom halt) schenken will, dann sagt sie sicher auch nicht nein. Was sie aber nicht will: sich allzu lange mit der schlechten Laune des Mannes herumplagen, sie hat’s mit mütterlichem Verständnis versucht. Im Zusammenspiel harmonieren Moretti und Peters – die schauspielerische Chemie scheint zu stimmen, auch wenn hier offenbar gewollt keine großen Gefühle gespielt werden.

Hinweis

Die ORF-Aufzeichnung der Generalprobe des diesjährigen „Jedermann“ auf dem Domplatz ist noch eine Woche in der tvthek.ORF.at zu sehen.

Doch auch die zweite Frau an Jedermanns Seite ist in Sturmingers Inszenierung hier deutlich stärker gezeichnet als zuvor: Statt die Mutter Jedermanns als nervige Alte zu lesen, tritt Edith Clever zum vierten Mal als Pensionistin mit Stil und vor allem Selbstbewusstsein auf. Die guten Werke, gespielt von Mavie Hörbiger, sind recht eindrücklich verortet: leichenblass, geradezu durchsichtig und kurz vor der Auflösung macht sie die Versäumnisse Jedermanns recht deutlich.

Toller Tod, tollender Teufel

Fast auf den Leib geschrieben scheint die Doppelrolle Teufel/Guter Gesell für Morettis Bruder Gregor Bloeb, der in roten Glitzerhosen, mit Dämonenzotteln und multifunktionalem Teufelsschwanz stark überzeichnet für Lacher sorgt. Auch Christoph Franken darf als glitzernder Mammon belustigen, Peter Lohmeyer ist als Tod (und Spielansager) schon seit Jahren eine ideale Besetzung. An der Seite des dünnen Vetters Tino Hillebrand ist mit Gustav Peter Wöhler heuer ein neuer dicker Vetter zu sehen, der Schuldknecht (Michael Masula) hat mit Pauline Knof eine neue Frau.

Szene aus „Jedermann“
Salzburger Festspiele/Matthias Horn
Jedermann (Tobias Moretti), von den Vettern (Gustav Peter Wöhler und Tino Hillebrand) ins Krankenbett gesteckt

Vier Jahre „Jedermann“ in zeitgenössischem Kleid

Es ist das vierte Jahr dieser Inszenierung einer gestrafften Fassung, in der da und dort holprige Passagen zu flüssigen Gedanken werden durften. In der nüchternen Fusion aus historischer und zeitgenössischer Architektur (Bühnenbild und Kostüme: Renate Martin und Andreas Donhauser) verliert sich viel vom Mysterium des alten Mysterienspiels.

Auf die Essenz reduziert, ins heute transferiert wird die zeitlose Relevanz der Geschichte weniger – wie eigentlich beabsichtigt – betont, sondern eher infrage gestellt. Gerade für den „Jahrhundert-Jedermann“, für den man ihn gerne gezeigt hätte, ist das irgendwie nicht richtig.

Hinweis

„Jedermann“ ist bei den Salzburger Festspielen noch am 3., 6., 10., 11., 13., 14., 17., 20., 22., 23., 24. und 26. August auf dem Domplatz (bei Schlechtwetter im Großen Festspielhaus) zu sehen.

Virus (fast) unberücksichtigt

In der Inszenierung sollte die Pandemie jedenfalls unerwähnt bleiben, so Sturminger vorab. Blieb und bleibt sie natürlich aber auch ohne konkrete Anspielungen nicht. Denn abgesehen von der Pandemiesitzordnung (streng im Schachbrettmuster), Maskenpflicht bis zum Platz und den sonstigen exzessiv betonten Sicherheitsmaßnahmen rund um die Vorstellungen ist die vielleicht spannendste Erkenntnis des Abends jene, dass sich die Wahrnehmung in nur sechs Monaten verändert hat.

Das abstandsindoktrinierte Auge empfindet die Normalität, mit der die Tischgesellschaft auf Tuchfühlung geht, fast schon obszön undistanziert – und wohltuend zugleich. Und am Ende ist es doch irgendwie wie immer seit 100 Jahren – Jedermann stirbt und das Leben geht weiter.