Ein Film, stumm und in Schwarz-Weiß: Eine junge hübsche Frau mit Bubikopf auf einem Fahrrad. Sie radelt durch einen Park. Die Szene wird wiederholt. Sie radelt und radelt. Flirtet mit der Kamera. Dann dieselbe unbekannte Schöne mit einer Schar gut gekleideter Menschen. Zwei der anwesenden Herren tragen mit ihren Spazierstöcken einen Fechtkampf aus, einem dritten stiehlt die übermütige Horde den Lodenhut vom Kopf.
„100 pieces“ zur Geschichte
Mehr zur Geschichte der Salzburger Festspiele in der Zwischenkriegszeit in Videoform auch in den ORF.at/100pieces.
Selten stößt man in der Archivarbeit auf solche Überraschungen wie in diesem Fall im Filmarchiv Austria. Der Fund ergab sich im Zuge der Recherchen zu der großen ORF-Dokumentation zu 100 Jahren Salzburger Festspiele von Beate Thalberg. Der aufgefundene Film ist ein stummes Rätsel in Schwarz-Weiß, in hervorragender technischer Qualität und toll restauriert. Das Rätsel trägt den lapidaren Titel „Prominenz in Salzburg 1928“, was für ein internationales Festival, das die Festspiele damals schon waren, nicht weiter verwunderlich ist. Die Jahreszahl wird sich später als nicht ganz richtig erweisen, aber das Jahrzehnt stimmt.

Schritte der Recherche
Die Szenerie im Film ändert sich. Die junge Schöne aus der Eingangssequenz erscheint in einer opulenten Kostümierung im Stil der 1920er Jahre und dann im Kostüm einer Nonne. Es sind Proben zu Reinhardts „Das Mirakel“, einem gigantomanischen Mittelalterspektakel, mit dem Reinhardt 1911 zum ersten Mal in London reüssierte. Bei den Salzburger Festspielen soll das Stück am 16. August 1925 Premiere haben. Zeitungsberichte geben einen guten Einblick in Reinhardts monomanischen Arbeitsstil.
Prominente bei den Salzburger Festspielen 1925
Noch am Premierentag versucht er, die Massenszenen in den Griff zu bekommen. Ab 7.00 Uhr. Am Nachmittag tauchen in Salzburg Handzettel auf, die Premiere sei um eine Stunde auf 20.00 Uhr verschoben. Schließlich geht es nach einem zwölfstündigen Probenmarathon um 20.30 Uhr los.
Ab Minute sieben des Films erscheint Reinhardt selbst vor der Kamera. Der sonst scheue und auch schwer zu fassende Theatermann erscheint in Szenen von fast berührender Intimität: Tief schaut er der unbekannten Schönen in die Augen. Sie lächelt vertrauensvoll. Aber wer ist sie? Diese großgewachsene, sehr natürliche, vermutlich dunkelblonde junge Frau, um die sich in diesem Filmdokument alles dreht?
Rosamond Pinchot – ein Star des Jahres 1925
Die Hauptdarstellerin in „Das Mirakel“ war leicht zu eruieren. Sie heißt Rosamond Pinchot. Pinchot war, wie die Recherche über die Zeitungsdatenbank der Nationalbibliothek zeigt, die Sensation der Salzburger Festspiele 1925. Die Zeitschrift „Die Stunde“ bezeichnete sie „als interessanteste Frau der Salzburger Festspiele“. Die österreichischen Zeitungen überschlugen sich förmlich mit Berichten.

Reinhardt habe die 19-jährige amerikanische Millionärstochter an Bord des Luxusschiffes „Aquitania“ entdeckt, heißt es da. Pinchot-Enkelin Bibi Gaston hat auf der Grundlage von Tagebüchern und Briefen die Begegnung mit Reinhardt rekonstruiert: Reinhardt sei 1923 auf der Suche nach einer spektakulären Besetzung für die Hauptrolle in „Das Mirakel“ gewesen. Mit diesem Stück wollte er sein Broadway-Debüt geben.
Drei Tage lang hätten er und zwei seiner Mitarbeiter das 1,80 Meter große Mädchen aus bester Familie auf der „Aquitania“ beobachtet, bevor Reinhardts Impresario, Rudolf Kommer, Pinchot schließlich angesprochen habe.
Die Eltern von Pinchot seien von diesem Ansinnen naturgemäß wenig begeistert gewesen. Die Schauspielerei war in den 1920ern nicht unbedingt die passende Beschäftigung für eine junge Dame der Gesellschaft.

Über Nacht zum Star
Reinhardts „Das Mirakel“ wurde 1924 in New York ein Sensationserfolg. Die blutjunge und völlig unerfahrene Laienschauspielerin Pinchot wurde über Nacht zum Star. Die New Yorker Presse verlieh ihr das Etikett „the loveliest woman in America“. Jung, schön, reich und nun auch berühmt.
Hinter Pinchots Darstellung in der Presse steckte Morris Gest, Reinhardts US-Produzent, ein recht skrupelloses PR-Genie mit Sinn fürs Merchandising. Er ließ sogar ein „Mirakel“-Parfum auf den Markt bringen. „A perfume summing up in one exquisite odour the splendour and mystery, the romance and haunting beauty of the play“, inserierte der Parfumproduzent. Eine bis dahin unbekannte Strategie bei der Vermarktung von Theateraufführungen und Stars.

Junge Stars, mehr Reputation
Gests und Reinhardts Geschäftsmodell: Pinchot soll als „erstes Blut aus Amerika“ das amerikanische Publikum und US-Kritiker anziehen und Salzburg so auf einer internationalen Bühne berühmt machen.
Die Methode, schöne Frauen aus einflussreichen Kreisen zu engagieren, um Reputation zu gewinnen, kam nicht nur im Fall von Pinchot zum Einsatz. Die zweite weibliche Hauptrolle in „Das Mirakel“ spielte Lady Diana Manners, eine der führenden Persönlichkeiten der Londoner High Society, ebenfalls ohne Schauspielerfahrung. Auch diese britische „Queen of Beauty“ findet sich in unserem Film: eine distinguierte Erscheinung mit Hut.
Das Ende der Rosamond Pinchot
Mit Pinchot nahm es kein gutes Ende. Sie konnte an ihren frühen und unvermuteten Starruhm nie mehr anschließen. 1934 traf sie erneut auf Reinhardt, als dieser nunmehr 60-jährig seine Emigration in die USA vorbereitete. Schwärmerisch notierte sie in ihr Tagebuch: „To have had a love affair with him would have been a delight and an education.“
Schlecht verheiratet und unglücklich nahm sich Pinchot schließlich 1938 das Leben. Eine Familie, in der sich tragische und spektakuläre Todesfälle häufen: ihre Halbschwester, Mary Pinchot Meyer, war eine Geliebte John F. Kennedys und wurde erschossen, ihre Cousine Edie Sedgwick kam in Warhols „Factory“ zu kurzem Ruhm, bevor sie am Drogenmissbrauch zugrunde ging.

Die „entfesselte“ Kamera
Interessant ist die Machart des nun entdeckten Filmes: Laut Filmarchivar Nikolaus Wostry wurde dieser Streifen mit einer ICA-Kinamo-Kamera gedreht, eine Art Edelamateurfilmformat, das so etwas wie eine „entfesselte Kamera“ erlaubte: eine kleine bewegliche Handkamera mit 35-mm-Film in höchster technischer Brillanz.
Bedient worden sei diese Kamera, so schließt Filmexperte Wostry, auf jeden Fall von jemandem, der sich einerseits dieses teure Stück habe leisten können, der aber zugleich offenkundig viel ästhetisches Know-how mitgebracht habe. Und es sei wohl jemand gewesen, der dem Medium Film, damals noch das Schmuddelkind unter den Künsten, aufgeschlossen gegenübergestanden sei. Nicht ausgeschlossen, dass es am Ende Reinhardt selbst gewesen sei.
Große Intimität
Die anonyme Person hinter der Kamera stand auf jeden Fall mit all diesen hochgestellten Persönlichkeiten auf Du und Du – das legt die Ungezwungenheit nahe, mit der sich die „Festspielfamilie“ vor der Kamera bewegt.

Teil des Films sind aber auch offizielle Szenen. Etwa, wenn mehrere Herren in Frack miteinander plaudern. Im Bild erscheinen der Salzburger Landeshauptmann Franz Rehrl, der Erzabt von St. Peter und schließlich auch Hugo von Hofmannsthal, von dem bisher nur ein Zweisekünder in Filmform überliefert war. Im Film sieht man ihn in lockerer Plauderlaune; etwas verlegen schaut er in die Kamera und grüßt den Kameramann. „In Salzburg musste er gesellig sein“, wird seine Tochter Christian Zimmer im Rahmen der „100 pieces“ sagen.
Dieser Film, jüngst vom Filmarchiv Austria aus den USA „repatriiert“, setzt der liebenswürdigen Erscheinung Pinchot und auch dem Rest der Salzburger „Festspielfamilie“ des Jahres 1925 ein zärtliches und lebendiges Denkmal. Ungezwungen präsentieren sie sich vor der Kamera: Impresario, Produzent, Kostümbildner, Autor, Komponist, Schauspieler und Schauspielerinnen – bezaubernd auch Lil Dagover als „Schönheit“ im „Großen Welttheater“. Reinhardts Team, würde man heute sagen.