Szene aus „Everywoman“
SF/Armin Smailovic
„Everywoman“

Eine Jedermann für 2020

Nach gut der Halbzeit der Salzburger Festspiele hat am Mittwoch mit „Everywoman“ die dritte und letzte Schauspielproduktion Premiere gefeiert. Während auf dem Domplatz mit großer Party gestorben wird, ist in der Szene Salzburg Milo Raus aktuelle „Jedermann“-Auseinandersetzung zu sehen. Für 2020 ist es die vielleicht treffendste Zuspitzung: ein Zweifrauenstück über Einsamkeit und realen Tod.

„Everywoman“ ist kein „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ mehr, sondern eine Reflexion über das Sterben von tatsächlich allen – jenseits jeglichen Geschlechts. Weg sind eigenartige Kunstsprache, Moralitäten und mittelalterliche Glaubensvorstellungen der Vorlage – geblieben ist die existenzielle Angst eines sterbenden Menschen vor der Einsamkeit.

Auf der Bühne steht mit Ursina Lardi die Mitautorin und Mitentwicklerin des Stücks – nicht nur in der Schweiz gilt sie als Theater-, Film- und Fernsehschauspielerin in der Topliga. Doch die titelgebende „Everywoman“, die Frau, die sich ganz real mit der Ankündigung des Todes auseinandersetzen muss, ist Helga Bedau. Die 71-jährige ehemalige Lehrerin aus Berlin hat die Prognose ihrer unheilbaren Krebserkrankung bereits mehrere Monate überlebt und ist per Videoaufzeichnung zugeschaltet.

Szene aus „Everywoman“
SF/Armin Smailovic
Ursina Lardi kommuniziert mit Helga Bedau über die Leinwand, nicht in Echtzeit und doch real

Von einer angedeuteten Tischgesellschaft weg spricht sie von der Leinwand herab nicht nur über ihren von den Ärzten angekündigten Tod, sondern auch über ihre Kindheit im Ruhrgebiet, den Umzug nach Berlin in den 1960er Jahren, Mutterschaft und Träume.

Hinweis

„Everywoman“ ist im Rahmen der Salzburger Festspiele noch am 20., 22., 23., 27. und 28. August in der Szene Salzburg zu sehen.

Sanft moderiert wird das von Lardi, die in präziser Abstimmung mit ihrer aufgezeichneten Bühnenpartnerin kommuniziert und selbst Persönliches beisteuert. Unaufdringlich, natürlich und extrem präsent gelingt der Schweizerin dabei der Spagat zwischen Neugier und Mitempfinden.

Handlungen wider besseres Wissen

Immer wieder geht der Abend über die hochprivaten Reflexionen hinaus und öffnet sich für zeitgenössische Übertragungen der „Jedermann“-Motive auf die Gesellschaft. „Gab es je eine Zeit, in der Wissen und Tun so säuberlich getrennt waren wie in dieser?“ Lardis Frage impliziert – ohne es konkret ansprechen zu müssen – vieles, was die Widersprüchlichkeit ausmacht, in der wir leben: Klimakrise, Overtourism, Pandemie – das Leben geht weiter wie zuvor, Umdenkprozesse bleiben in den Nischen.

Szene aus „Everywoman“
SF/Armin Smailovic
„Everywoman“ meint alle Menschen

Wegen Pandemie neu gedacht

Die Frage, was sich mit dem Thema des Spektakels auch heutig anfangen lässt, legten die Festspiele als Jubiläumsprojekt in die Hände von Rau, der mit seinem 2007 gegründeten International Institute of Political Murder als einer der relevantesten Theatermacher der Gegenwart gilt. Mit Metathemen kennt er sich aus – stehen im Zentrum seiner europaweit gefeierten Arbeit doch stets historische und gesellschaftliche Konflikte und Themen, aufgearbeitet durch akribische Nachforschung. Wenig überraschend ist „Everywoman“ somit keine Produktion geworden, die das Traditionsstück schlicht ins 21. Jahrhundert übersetzt hätte.

In seiner dritten Zusammenarbeit mit Lardi und gemeinsam mit Dramaturgin Carmen Hornbostel plante Rau, sich auf die Allegorie der Werke zu konzentrieren – also auf die Frage, was von unseren Taten nach dem Tod noch übrig bleibt. Verknüpft mit der ebenfalls wegen der Pandemie abgesagten Wiener-Festwochen-Produktion „Antigone im Amazonas“ wollte das Team in Brasilien während der Arbeit mit indigenen Künstlerinnen und Künstlern eine globale Perspektive auf die Solidarität gewinnen.

Milo Rau
Bea Borgers
Der Schweizer Theatermacher Milo Rau entwickelte seit 2002 über 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen, die in mehr als 30 Ländern zu sehen waren. Seit 2018 leitet er das Niederländische Theater Gent.

Durch den Ausbruch der Pandemie wurde die Reise abrupt beendet und auch, so beschreibt Rau, die Fragestellung verändert: „Warum nach Brasilien fahren, wenn wir doch alle sterben müssen? Warum nicht einfach in den Kern der Sache vorstoßen?“ Dieser Vorstoß in den „Skandal der Sterblichkeit“, wie Rau es nennt, wurde nun zu einer intimen Betrachtung und zu einem Ort, an dem alle Fragen offen bleiben dürfen.

Bach im Sommerregen

Was in Form von Antworten, die der Mensch immer so gern hätte, ausbleibt, manifestiert sich auf der Gefühlsebene umso deutlicher. Im generell recht schlicht gehaltenen Setting (Ausstattung: Anton Lukas) sind es wenige Effekte, die viel auslösen. So beschreibt Bedau am Ende ihre Vorstellung vom Tod – bei Sommerregen nach einem Gewitter, zu Musik von Johann Sebastian Bach. Und im Sprühregen auf der Bühne setzt sich Lardi an den Flügel und beginnt zu spielen.

Zum Applaus kommt mit Lardi auch Bedau auf die Bühne, um sich live zu verbeugen – vor einem deutlich ergriffenen Publikum und unter großem Applaus. Spätestens in diesem Moment wird die Bedeutung des von Rau propagierten Theaters des Realen besonders deutlich. „Es ist seltsam. Vor allen Dingen, weil ich nicht weiß, ob ich bei der Premiere noch da sein werde“, sagte Bedau zuvor im wahrscheinlich vor Wochen aufgenommenen Video in der Inszenierung.