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ABD0031_20200107 – SALZBURG – ÖSTERREICH: Das Regiebuch von Max Reinhardt zum „Jedermann“, mit dem vor 100 Jahren die Salzburger Festspiele aus der Taufe gehoben wurden, am Montag, 16. Dezember 2019. Es wird in der Landesausstellung „Großes Welttheater – 100 Jahre Salzburger Festspiele“ 2020 zu sehen sein. – FOTO: APA/BARBARA GINDL – 20191216_PD12388 – Rechteinfo: Rights Managed (RM)
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Vom Zirkus vor den Dom

100 Jahre Salzburger „Jedermann“

Wenn es ein Theaterstück in diesem Land gibt, dessen Besetzung für die Volksseele beinahe so bedeutsam ist wie die Aufstellung der Fußballnationalmannschaft, dann ist es wohl der „Jedermann“. Vor hundert Jahren wurde das Stück von Hugo von Hofmannsthal zum ersten Mal in Salzburg auf die Bühne gebracht. Einst bei der Uraufführung in Berlin ein Flop bei der Kritik, gelang in Salzburg, wovon die Festspielgründer träumten: die Stadt zur Bühne zu verwandeln – und einen Magneten für die Massen zu haben. Dabei war zu Beginn vieles dem Zufall geschuldet.

Wenn es so etwas wie die „DNA der Salzburger Festspiele“ gibt, dann ist das wohl der „Jedermann“ auf dem Domplatz, der am Tag genau vor 100 Jahren am 22. August 1920 auf einer Bretterbühne seine Salzburg-Premiere hatte. Und zu dem wurde, was Hofmannsthal mit einem ganz anderen Stück programmatisch umrissen hatte: „Das Salzburger große Welttheater“. War der „Jedermann“ bei seiner Premiere im Berliner Zirkus Schumann mit seiner katholischen Erlösungsmetaphorik ein Stück komplett gegen die Zeit, die zwar mit der aufkommenden Psychoanalyse Archetypen liebte, aber mit der am Glaubenskanon orientierten Stellvertreterthematik doch fremdelte, so kam das Stück im Dekor der Salzburger Stadt beinahe sprichwörtlich: zu sich.

„100 pieces“: Max Reinhardt lässt den Domplatz tanzen

„Mehr durch Zufall als durch programmatische Absicht wurde es zum Gründungsstück der Salzburger Festspiele“, bekennt denn auch Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler im Vorwort zu einem Kleinod, das sich die Festspiele zu ihrem Hundertjahrjubiläum selbst geschenkt haben: In Zusammenarbeit mit der Germanistik der Universität Salzburg hat man das Regiebuch des „Jedermann“ von Max Reinhardt herausgegeben, das in sich schon ein Kunstwerk ist und die Denkweise des Inszenierungsgenies und Medienmenschen Reinhardt offenbar werden lässt.

„100 pieces“: Der Probenbesuch nach Mitternacht

Wenn man die spätere Losung des Medientheoretikers Herbert Marshall McLuhan, „the medium is the message“, ernst nimmt und darin erkennt, dass erst das Medium dem Inhalt seine entscheidende Gestalt verleiht und kein Inhalt gegen das Medium gemacht werden kann, dann ist Reinhardt mit seinen Visionen vom Theater und auch dem Sprengen seiner Grenzen, ein McLuhanist der ersten Stunde.

„100 pieces“ zur Geschichte

Mehr zur Geschichte der Salzburger Festspiele in der Zwischenkriegszeit in Videoform auch in den ORF.at/100pieces.

In der „Zufälligkeit des Tages“

Im Setting der Stadt Salzburg erkannte Reinhardt auf jeden Fall, dass genau hier, vor dem Salzburger Dom, Hofmannsthals „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ abzuhalten wäre. „Die Zufälligkeit des Tages“ und „der Flug der Tauben“ waren ihm ein entscheidendes Moment für diese Theaterkomposition, indem er das Elementare mit der ganzen Wucht der barocken Fassadenkunst zusammenbringen konnte. „So stellen wir ein einfaches Brett vor dem Dom auf und spielen auf ihm, ohne alle Requisiten, in vollem Licht des Tages“, hielt er in seinen Überlegungen fest.

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Max Reihnardt..*09.09.1873-30.10.1943+..Regisseur, Schauspieler, A…bei Proben zu ‚Jedermann‘ bei den Salzburger Festspielen…22.07.1931..Foto: Balassa *** Local Caption *** 00082427 – 19310101_PD0896 – Rechteinfo: Rights Managed (RM)
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„So spielen wir im vollen Licht des Tages“: Reinhardt am Rande von Proben zum „Jedermann“ im Sommer 1931

„Es war der Gedanke Max Reinhardts, auf diesem Platze, vor der Fassade des Doms, das Gerüst für das ‚Jedermann‘-Spiel aufzubauen“, notierte Hofmannsthal 1921 im Rückblick auf die Salzburger Inszenierung seines Stückes und zeigte sich vom Gespür Reinhardts für diesen Ort begeistert: „Die Fanfarenbläser und Spielansager hatten ihren selbstverständlichen Platz, zerstreut auf dem marmornen Portikus. Wie ein Selbstverständliches wirkten die marmornen, fünf Meter hohen Heiligen, aus denen die Schauspieler hervortraten.“

Die Mutter aller Freiluftstücke

Hielt man dem Stück einst vor, es gehöre in eine „Kirche oder eine Germanistenkneipe“ (so Siegfried Jacobsohn 1911 in der „Schaubühne“), so erfüllten sich im Lauf der Jahre die Erwartungen Reinhardts: Der „Jedermann“ wurde zu dem Salzburger Elementarstück, ja er wurde zu so etwas wie der Mutter aller Freilufttheaterstücke (und damit nicht selten zur Urmutter aller Schlachten gegen den Wettergott).

Welttheater im Schnell-Remix

Was Reinhardt bei seinen Visionen vom Theater leitete und wie er assoziierte und seine Ideen festhielt, das lässt sich von seinen Regiebüchern ablesen, auf die Reinhardt immer wieder zurückgriff, dabei in verschiedenen Farbschichten notierte, um frühere von späteren Ideen unterscheiden zu können. Man darf hier an den französischen Essayisten Michel de Montaigne denken, der seine legendären „Essais“ bereits für den Druck einmal überarbeiten ließ – um dann die finale Druckausgabe erst wieder zu überschreiben, weil sich in der Zwischenzeit so viel Erfahrungswissen aufgehäuft hatte, das er seinen bereits veröffentlichten Texten anfügen musste.

„100 pieces“: Happy Birthday, Mr. Jedermann!

Eine spezielle Ausgabe vom Verlag

Vom Verlag S. Fischer hatte sich Reinhardt im Jahr 1911 ein eigenes Exemplar des eben erschienenen Hofmannsthal-Stücks herstellen lassen, das neben dem Text immer auch leere Durchschussseiten hatte. Auf diese notierte Reinhardt seine Regieeinfälle. Die Regiebücher waren für Reinhardt die „Nahtstellen“, so die Theaterwissenschaftlerin Edda Fuhrich, „zwischen dem literarischen Text und dem Schauspiel“.

Aufgeklappte Seite der faksimilierten Ausgabe, die zum Jubiläum der Festspiele herausgekommen ist
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Festspiel der Faksimilierkunst: Die Ausgabe von Reinhardt kann nun jeder in Händen halten – mit Originalflair

Die Schichten, die dieses Regiebuch offenlegt und die vom Salzburger Textwissenschaftler Harald Gschwandtner im Zuge eines eigenen Sonderforschungsprojekts beim Salzburger Germanisten Norbert Christian Wolf in ziselierter Feinarbeit freigelegt wurden, zeigen die Gedanken Reinhardts zu drei wesentlichen „Jedermann“-Inszenierungen: jener im Berliner Zirkus Schumann (mit Bleistift), jener für Salzburg (violett) und jener für die Aufführung auf dem Broadway 1927 in New York.

Plakat des Künstlers Kowalski, das dem Ursprungsjedermann nachempfunden ist
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Spiel mit dem Urkonzept des „Jedermann“ in Salzburg vom Maler Wolfgang Mair alias „Kowalski“

Eine große Partitur

Deutlich wird an den vielen Notizen und Zeichnungen, dass die Regiebücher richtige Partituren und Kompositionen darstellen. Reinhardt notierte Einfälle, zeichnete und beschrieb darin den Weg, Visionen zur Realität werden zu lassen. Tempi, Pausen, Bewegungen, all das halten seine Regiebücher fest.

Die Ausgabe

Bild der neuen Faksilimeausgabe von Reinhards Textbuch
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Max Reinhardt, Regiebuch zu Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“, 2 Bde., hsgg. von Harald Gschwandtner, Evelyn Annuß, Edda Fuhrich und Norbert Christian Wolf für den Salzburger Festspielfonds, 572 Seiten, 80,00 Euro.

Die jetzt mit dem Hollitzer Verlag herausgegebene Faksimileausgabe ist in diesem Sinn ein Erlebnis für eine interessierte Öffentlichkeit, stellt sie doch das Original Seite für Seite dar und kommt dabei der Aura der Vorlage nahe, die momentan in der Salzburger Landesausstellung zu sehen ist. Man kann hier den „Jedermann“ lesen und am Ideentheater von Reinhardt partizipieren: assoziativ – oder wissenschaftlich exakt bis ins letzte Detail, denn jeder handschriftliche Eintrag Reinhardts wurde extra in einem eigenen Begleitband dargestellt.

Mit dabei in dieser Ausgabe sind auch die Überlegungen von Reinhardt zum Prinzip des Regiebuches, die der Feinphilologe Gschwandtner im Nachlass Reinhardts aufgespürt hat. „Man liest ein Stück. Manchmal zündet es gleich“, notierte Reinhardt da. Manchmal müsse man mehrere Anläufe zu einem Text nehmen, ehe sich „der Weg zeigt; manchmal zeigt sich keiner“, so Reinhardt, der den Moment, da ein Stück tatsächlich zündet, so umschrieb: „Schließlich hat man eine vollkommene optische und akustische Vision. Man sieht jede Gebärde, jeden Schritt, jedes Möbel, das Licht, man hört jeden Tonfall, jede Steigerung, die Musikalität der Redewendungen, die Pausen, die verschiedenen Tempi.“

Die Theaterproduktionen Reinhardts waren ein großer Anlauf gegen die Zumutungen der Zeit nach Ende des Ersten Weltkrieges. Bewusst wollte der Theatermann die befreiende Wirkung der Kunst gegen die Nöte der damaligen Zeit setzen. Nicht immer wurde das verstanden. Heuer, im Zeitalter der Covid-19-Maßnahmen, kann man aber möglicherweise genau jene visionäre Kraft, sich gegen eine drückende Gegenwart aufzubäumen, ein wenig besser nachvollziehen. Der „Jedermann“ trotzt schon zum Hunderter in Salzburg jedenfalls allen Infektionsketten – und setzt im Sinne Reinhardts auf seine ganz eigene, erlösende.