Publikumsreihen von oben
Barbara Gindl / APA
Die Festspiele, ein Rückblick

Neue Muster für die Kunst

Eine Welt auf Abstand ist eine Katastrophe für ein Medium, das alle Barrieren sprengen will. Dass die Kunst in Zeiten des Coronavirus nicht so sein kann wie davor, musste man schmerzhaft lernen. Distanz im Orchestergraben, Schachbrettbesetzung im Publikum – das sind die neuen „Muster der Kunst“. Die Salzburger Festspiele haben trotzdem gespielt, wollten sich zum Hundertjahrjubiläum nicht unterkriegen lassen. Und haben gewonnen. Wenn die Zeit ihre Kunst hat, dann braucht die Zeit auch ihre Kunst, die ihr trotzt. So könnte man die Schlussbotschaft dieser Festspiele verstehen, die nicht nur Kunstfreunde betrifft.

Als „Zeichen für die Kraft der Kunst in kraftlosen Zeiten“ – so bilanzierte Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler das Mammutprojekt, die Festspiele gegen alle Bedenken, nicht zuletzt des benachbarten Auslands, zum 100. Geburtstag des Festivals abzuhalten. Es war ein Hochrisikoakt. Der am Ende gut ausgegangen ist. Weit über die Grenzen der eingefleischten Festspielgemeinde haben die Salzburger Festspiele heuer ausgestrahlt. Das Eröffnungswochenende vom 1. und 2. August mit seinen vier Premieren hat, was die Aufmerksamkeit betrifft, alle bisher gekannten Grenzen gesprengt.

100 pieces SOCIAL trailer

Das Welttheater im Remix

76.500 Besucher zählten die Festspiele in diesem Jahr bei einem deutlich reduzierten Programm in 30 Tagen an acht Spielstätten. 110 Aufführungen wuchtete man unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen auf die Bühnen, zwei strahlende Opernpremieren brachte zu Wege, dem unbequemen Peter Handke rang man sogar eine vergleichsweise leichtfüßige Summe seiner Werkgedanken ab. Und nicht strafte man zuletzt mit einem glänzenden Konzertprogramm all jene auch Lügen, die „sicherheitshalber“ ihre Häuser zu ließen.

„Die Kultur darf nicht verstummen"

„Kunst ist nicht Dekoration, sondern Lebensmittel“

Der Gründungsgedanke der Festspielväter war ja auch ein Akt des Trotzes: gegen die Entbehrungen der Zeit ein Kunstfestival zu setzen, um so etwas wie längerfristige Orientierung und eine Form von Erhebungen über die Niederungen der Gegenwart zu schaffen. Diesen Gründungsgedanken hätten die Festspiele, so Rabl-Stadler zum Schluss, „auf das Sinnvollste wiederbelebt“. Die Kunst, so erinnert sie an den Geist Max Reinhardts, sei „nicht Dekoration, sondern ein Lebensmittel“ – mehr dazu auch in salzburg.ORF.at.

Download von www.picturedesk.com am 31.08.2020 (18:08). 
Salzburger Festspiele 2020.Auffahrt zur Vorstellung Jedermann im Großen Festspielhaus Salzburg.Im Bild Festspielpräsidentin Helga Rabl Stadler und Festspielintendant Markus Hinterhäuser Foto: Franz Neumayr 22.8.2020 – 20200822_PD8615 – Rechteinfo: Rights Managed (RM)
Franz Neumayr / picturedesk.com
Helga Rabl-Stadler und Markus Hinterhäuser beim Besuch des Jubiläums-„Jedermanns“

„Wir haben in diesem besonderem Festspieljahr alle gemeinsam etwas geschaffen, womit vor Wochen kaum jemand rechnen konnte: dass mit einem sehr durchdachten, klugen, trotzdem niemand überfordernden Sicherheitskonzept Musik, Theater, Konzerte, Oper, all diese wunderbaren Dinge wieder möglich sein können“, bilanzierte Festspielintendant Markus Hinterhäuser die letzten Wochen. Man erinnert sich an die Aufregungen der Tage vor den Premieren, ob diese überhaupt stattfinden könnten. Jetzt am Ende haben sich die Festspiele selbst überrascht und gehen mit enormen Zuspruch der internationalen Presse in die Planungen für das Festspieljahr 2021.

Blick ins Treppenhaus des großen Festspielhauses
ORF.at
Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Sicherheitsmaßnahmen: Blick ins Foyer des Großen Festspielhauses im Sommer 2020

Vieles musste umgeplant werden. Manches konnte man verlängern, etwa die große Ausstellung zur Geschichte der Festspiele, „Das große Welttheater“, die ja in sich auch eine Entwicklungsgeschichte Österreichs darstellt. Über 36.000 Mails beantwortete man im Zuge der Kartenrefundierungen und Umbuchungen in den Kartenbüros der Festspiele. Hier sitzen die oft mehr als unbedankten Heldinnen und Helden dieses Kunstfestivals.

Für das kommende Jahr stehen große Herausforderungen ins Haus. Nicht nur, weil die Festspiele 2021 in Sachen Coronavirus unter wahrscheinlich ähnlich diffizilen Rahmenbedingungen stattfinden werden wie heuer. Künstlerisch wartet der „Jedermann“ auf eine Auffrischung, nicht nur was die Besetzung der Hauptpartien betrifft. Einen neuen Jedermann und eine, wahrscheinlich neue Buhlschaft zu finden ist das eine – beide in eine überzeugende Inszenierung zu setzen, aber die offene Herausforderung für die Zukunft. Man kann sich schwer vorstellen, wie der im Moment von manchen herbeigesehnte Lars Eidinger in der Michael-Sturminger-Inszenierung brillieren könnte. Das Schicksal von Caroline Peters in diesem Jahr sollte ein warnendes Signal sein.

Die Herausforderungen für 2021

Schauspielchefin Bettina Hering ist als Peter-von-Matt-Schülerin bei Hofmannsthal sicherlich beschlagen wie wenig andere in ihrem Fach. Allerdings muss man ihr für den „Jedermann“ und die weitere Auseinandersetzung mit Hugo von Hofmannsthal auch jene Mittel in die Hand geben, um entsprechende Sprünge machen zu können. Der „Jedermann“, das hat auch dieses Jahr wieder gezeigt, ist und bleibt Publikumsmagnet und, wie es so schön heißt, „die DNA der Festspiele“. Das beweisen auch die Zugriffszahlen auf dem Festspielkanal von ORF.at. Weit über eine Million Zugriffe in einem Monat, das ist neuer Rekord – und stets sind der „Jedermann“ und das Kleid der Buhlschaft die unschlagbaren Sieger in der Quote.

Ein großer Erfolg mit einer Viertelmillion Abrufen auch die „100 pieces“, jene Gemeinschaftsproduktion von ORF-TV, ORF-Archiv und ORF.at, das die Festspielgeschichte als Geschichte Österreichs mit unerwarteten Akzenten lesen sollte. Was dabei das Publikum am meisten begeisterte? Der Ausspruch: „This is shit, this should be banned“. Festspiele sind eben Lebensmittel – und mitunter eben auch Reibebaum.

Klang und Sitzabstand

Die Festspiele 2020 sind in vielerlei Hinsicht Signal. Für die Produktionen in großen Opern- und Theaterhäusern. Aber auch für die Feinschmecker auf dem Terrain der Klassik. Dass die Wiener Philharmoniker in Salzburg enger zusammensitzen durften als die Berliner Philharmoniker, bedingt durch unterschiedliche Vorgaben der Gesundheitsversicherungen in den jeweiligen Ländern, hat der Debatte über die Klangstruktur der Orchester neue Nahrung gegeben. Die Wiener, sie klängen „warm und kompakt“, wie etwa Helmut Mauro am Montag in der „Süddeutschen Zeitung“ befand. Nur „das Wiener Triangel“ sei zu laut, monierte er an einem Tag, an dem sich beide Orchester vergleichen ließen.

Die Berliner wiederum hätten bei Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“ in der Fassung für Streichorchester die Wärme des Tons getroffen, wären sonst aber „doch recht spröde“ über die Bühne des Großen Festspielhauses gekommen. Ob solche Nuancen freilich dem Sitzabstand geschuldet sind, darf man den Debatten der Feinspitze überlassen. Manchmal liegt es vielleicht mehr an der Haltung von Dirigent Kirill Petrenko als am Coronavirus.