Lars Eidinger (Jedermann) und Verena Altenberger (Buhlschaft)
APA/Barbara Gindl
Neuinszenierung

„Jedermann“ bleibt eine Baustelle

Mit einer umjubelten „Jedermann“-Premiere haben die Salzburger Festspiele am Samstagabend die Saison eröffnet. Lars Eidinger brilliert in der Titelrolle und lässt den alten Text auf zugängliche Art neu hören, Verena Altenberger ist ihm eine ebenbürtig gewordene Buhlschaft. Die Inszenierung von Michael Sturminger wurde quasi im Probenprozess von der Wiederaufnahme zu einer gänzlich neuen Produktion – und trotzdem keine runde Sache.

Seit 1920 dient der Domplatz im Zentrum der Salzburger Altstadt als Kulisse für Hugo von Hofmannsthals 1911 uraufgeführte Tragödie – am heurigen Premierenabend blieb er aber unbespielt: Die heftigen Unwetter zwangen die Festspiele, die eigentlich für die imposante Freiluftkulisse konzipierte Aufführung in das Festspielhaus zu verlegen. Regisseur Sturminger kennt es trotzdem kaum anders – war es doch die vierte seiner insgesamt fünf Premieren, die vor der gemalten Domkulisse stattfinden musste.

Nach seiner ersten „Jedermann“-Inszenierung 2017, die er mit kurzer Vorbereitungszeit und mit Tobias Moretti auf die Bühne stemmte, feilte er jedes Jahr an seiner Arbeit. Wechselnde Buhlschaften und kleinere Änderungen reichten nie ganz aus, die Inszenierung abheben zu lassen. Die Umbesetzung Eidingers und generell größeren Wechsel im Personal ergaben schließlich heuer den nicht unlogischen Schritt zur Neuinszenierung. Auch Sturminger selbst bezeichnete die Arbeit am „Jedermann“ als „Work in progress“, und das merkt man der Inszenierung auch an: Statt aus einem Guss kommt vieles wie ein Stückwerk an Ideen an, manche davon gut, manche weniger, nicht alle zueinander passend jedenfalls.

Jedermann 2021: Ensemble
SF/Matthias Horn
Zeitlose Kostüme, bunt und detailreich

Ausstattung mit Aufwand und wenig Effekt

Ähnliches trifft auch auf Bühne und Kostüme von Renate Martin und Andreas Donhauser zu. Was bisher zeitgenössisch war, ist jetzt zeitlos gesetzt. Die Bühne soll, mit Holzaufbauten an die erste Bühne von Max Reinhardt erinnern, tatsächlich stehen die Holzplankentürme links und rechts eher funktionslos herum.

Mit offenen, teils störenden Umbauten verstärkt sich der Eindruck der nicht gesamt gedachten Ideenkette einmal mehr. Etwa wenn die Auseinandersetzung Jedermanns mit seinem Schuldknecht (Mirco Kreibich in Doppelrolle auch als Mammon auf der Bühne) zum Comic-sound-untermalten Boxkampf im Ring wird.

Mirco Kreibich (Ein Schuldknecht), Lars Eidinger (Jedermann) und Anton Spieker (Jedermanns guter Gesell)
APA/Barbara Gindl
Schuldknecht und Jedermann verhandeln im Boxring

Kleider- und Hosenzirkus

Den programmierten Aufreger hatten der Inszenierung im Vorfeld der Premiere die Kostüme beschert. Stilistisch quer durch die Epochen angesiedelt sind die Details – von Renaissance bis ins 21. Jahrhundert: Schleier, Samthöschen, Spitzenkrägen, Halskrausen, gehäkelte Häubchen und High Heels bunt (im wahrsten Sinne des Wortes) gemischt. Der Aufwand der Werkstätten ist unverkennbar, die Wirkung vernachlässigbar.

„Genderfluid“ seien sie, hieß es auf einer Pressekonferenz, was zu Spekulationen und Erregung in Kolumnen und auf Stammtischen führte – wo käme man dahin, wenn „der Gender“ jetzt auch schon auf den „Jedermann“ übergreife. Der Geifer darf sich beruhigen: Dass Frauen Hosen (und kurze Haare) tragen, sollte eigentlich schon ziemlich lange niemanden mehr in seiner oder ihrer Geschlechtsidentität verwirren, viel „fluider“ als absatztragende Männer ist es auch nicht geworden. Selbst konservative Kreise dürften das vertragen (oder hätten es ohne Ansage nicht einmal bemerkt).

Hinweis

„Jedermann“ ist bei den Salzburger Festspielen noch insgesamt zwölfmal bis 26. August auf dem Domplatz (bei Schlechtwetter im Großen Festspielhaus) zu sehen.

Ausführliche Berichte über die neue „Jedermann“-Produktion und die aktuelle Festspielproduktion sind in „kulturMontag“ am Montag ab 22.30 Uhr in ORF2 zu sehen.

Frauen sind nicht nur mitgemeint

War die Buhlschaft früher eine durch das drumherum hochstilisierte Nebenrolle, hat sie in der aktuellen Inszenierung deutlich an Bühnenzeit und Gewicht gewonnen. Die gebürtige Salzburgerin Altenberger darf so die erste sein, die nicht nur durch Nuancen im Spiel Emanzipation auf die „Jedermann“-Bühne bringen kann, sondern tatsächlich als Partnerin auf Augenhöhe agiert.

Doch auch im weiteren „Jedermann“-Universum sind Frauen plötzlich ausgeglichen präsent, und es wird schön deutlich, dass Gott, Tod und Teufel nicht durch ihre Männlichkeit ermächtigt sein müssen. Mit Edith Clever, in den vergangenen Jahren schon als Jedermanns Mutter (heuer gespielt von Angela Winkler) im Ensemble, ist der Tod unheimlich intensiv – eine Bedrohung, die keinen Theaterdonner braucht.

Mavie Hörbiger, ebenfalls nicht neu in der „Jedermann“-Truppe (zuvor als Werke), verkörpert nun Göttin und Teufelin. Als Letztere setzt sie dabei ganz auf die Rampe und lässt im komödiantischen Geplänkel mit dem Glauben (Kathleen Morgeneyer) die dankbaren Spielmöglichkeiten der Rolle nicht aus, womit sie sich am Premierenabend den einzigen Szenenapplaus sichern konnte.

Mavie Hörbiger (Teufel) und Kathleen Morgeneyer (Glaube)
APA/Barbara Gindl
Szenenapplaus für den Teufel im Streit mit dem Glauben

Jedermann aus einem anderen Teich

Im Fokus des Stücks ist und bleibt auch in der Inszenierung die Titelfigur Jedermann. Nach zwanzig Jahren Staffelübergabe zwischen Burgschauspielern – Peter Simonischek, Nicholas Ofzcarek, Cornelius Obonya und Tobias Moretti – wurde die innerösterreichische Erbfolge überraschend aufgebrochen und mit Eidinger ein Schauspieler aus einem anderen Biotop verpflichtet. Das merkt man seiner Interpretation auch an – den in der Inszenierung zitierten „Everyman“, will Eidinger als „Allegorie auf die heutige Gesellschaft“ sehen.

„Jedermann“-Premiere im Festspielhaus

Die Salzburger Festspiele haben einen neuen „Jedermann“. Die Produktion hat schon im Vorfeld für viel Aufsehen gesorgt, ist dieses Jahr doch vieles anders als sonst. Zum ersten Mal spielt eine Salzburgerin die Buhlschaft und als Jedermann hat der Berliner Lars Eidinger debütiert.

Den mittelhochdeutsch gefärbten, oft sperrigen Hofmannsthal-Text hört man bei Eidinger sehr angenehm flüssig neu, es holpert wenig und erzählt gleichviel. Wo andere wuchtig polterten, erklärt er etwa den Bettlern rational, wie Kapitalismus funktioniert. Der Spagat zu Bertolt Brecht ist für den Berliner-Schaubühnen-Star dann kein weiter – mit „Peachums Morgenchoral“ aus der Dreigroschenoper klingt der sonst bei Sturminger recht wegsäkularisierte religiöse Aspekt auch wieder durch.

Edith Clever (Tod) und Lars Eidinger (Jedermann)
APA/Barbara Gindl
Der Tod kommt leise zu Jedermann – lässt sich aber noch vertrösten

Diese Ideen sind nicht schlecht, und doch spannt sich hier der Bogen zum fehlenden Bogen: Es fehlt diesem analytischem Jedermann in der Gesamtschau die Fallhöhe vom Lebe- zum Sterbemann. Sein verzweifeltes Festhalten am Leben, als buchstäbliches Festklammern an den Weggefährten schön illustriert, wird deutlich – sein Erkenntnismoment zuvor blieb dagegen genauso verschwommen wie sein eigentlicher Antrieb.

Gestorben wird in dieser Inszenierung nach rund zwei Stunden konsequent: mit vielen Ideen. Zu „Schlafes Bruder“ und Kyrie-Klängen darf Jedermann im Pieta-Arrangement in den Schoß des Todes sinken. Das Premierenpublikum des vollbesetzten Festspielhauses (großteils unmaskiert) zeigte sich begeistert – mit Jubel und Standing Ovations wurde Sturmingers „Dombaustelle“ (Eigendefinition des Regisseurs) „Jedermann“ im diesjährigen Fortschritt begrüßt.