Der Philosoph und Autor Julian Nida-Rümelin
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Nida-Rümelins Eröffnungsrede

„Einzelstaaten sind keine Akteure mehr“

Eine Eröffnung als Philosophicum – das haben sich die Salzburger Festspiele heuer zum Nachholen ihres Hundertjahrjubiläums verordnet, und den Philosophen, der auch mal Politiker war, als eine Art schönen Levitenleser eingeladen. Man stehe vor einer neuen globalen Herausforderung, prophezeite Julian Nida-Rümelin in der Gestalt des alterslosen Denkers in der Salzburger Felsenreitschule. Wer noch an den Handlungsspielraum von Einzelstaaten glaube, gebe sich Illusionen hin. Heute brauche es einen neuen kollektiven Humanismus gegen eine Welt, in der sich gerade das Negativdenken durchsetze.

„Viele politische Akteure sind sich der Wurzeln ihres Handelns nicht mehr bewusst.“ Mit mahnenden, mitunter genüsslichen Sätzen wandte sich der ehemalige SPD-Kulturminister der Regierung Gerhard Schröder an sein Publikum, in dem sich ja die Spitzen des Staates und der EU versammelt hatten, um an diesem Sonntag gerade den politischen wie weltverbindenden Charakter der Salzburger Festspiele 101 Jahre nach ihrer Gründung zu würdigen. Vergangenes Jahr trotzten die Festspiele ja der Pandemie mit einem Kompaktprogramm, ließen aber den Eröffnungsakt ausfallen.

Standing Ovations für Rabl-Stadler

Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler hatte davor in einer leidenschaftlichen Rede gerade an den Charakter der Festspiele, ein europäisches Netz gegen den Geist der Zeit und gegen alle äußeren Widerstände zu knüpfen, erinnert und war nicht zuletzt für ihren leidenschaftlichen Einsatz und für den gelebten Charakter ihrer Worte von allen Anwesenden mit stehenden Ovationen gefeiert worden.

Festspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler
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Beherzte Rede – und stehende Ovationen am Schluss. An den Abschied von Helga Rabl-Stadler wollte man am Sonntag jedenfalls nicht glauben.

Von der Leyen mit im Publikum

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen saß im Publikum, ebenso Bundespräsident Alexander Van der Bellen – und die Spitzen der heimischen Bundesregierung. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) fehlte krankheitsbedingt. Die Adressaten für die Botschaften Nida-Rümelins waren also klar umrissen – und er habe den Vorteil, vom Pult Thesen an Adressaten zu überbringen, ohne dass es danach eine Diskussion gäbe – „das hat man also davon, wenn man einen Philosophen einlädt“, so der seit Kurzem emeritierte Inhaber eines Lehrstuhles für Philosophie und Politik an der Ludwigs-Maximilians-Universität München.

Die gesamte Festrede von Julian Nida-Rümelin

„Es verändert sich etwas, und wir sind mitten drinnen“

Nida-Rümelin skizzierte in seinem gut 20-minütigen, sehr frei gehaltenen Vortrag, der mitunter an ein zartes Unikolloquium erinnerte, den Verlust von Utopien seit dem Zusammenbruch des Kommunismus. Es sei etwas erodiert in unserer Gesellschaft, das wir nur sehr schleichend mitbekämen, „da wir ja mitten drinnen in dieser Entwicklung stehen“. Für Nida-Rümelin hätten in den letzten Jahrzehnten Dystopien den Platz untergegangener Utopien eingenommen. Zwar müsse man eingestehen, dass auch alle Tragödien des 20. Jahrhunderts ja utopistischen Bewegungen entsprungen seien, doch habe man gerade auf diese Erfahrungen wieder Visionen setzen können, etwa die Gründung der Europäischen Union.

Die Begrüßung durch Helga Rabl-Stadler

Nach dem Zusammenfall des Kommunismus hätten die einen mit Ratlosigkeit reagiert, die anderen seien sich sicher gewesen, „dass die eigene Lebensart zu den siegreichen Werten und zum Standardprogramm für die Welt“ gehörten. Ein Effekt dieser Haltung sei die Schwächung des Staates im Schatten des Neoliberalismus gewesen. Nach den Jahren des „Investmentterrors“ habe man die Rolle des Staates für die Wirtschaft wieder erkannt. Die Politik sei aber noch nicht in der Lage gewesen, neue Programme und Visionen zu formulieren.

Doris Schmidauer, Alexander van der Bellen, Zuzana Caputova, Heiko von der Leyen und Ursula von der Leyen
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Die Politik als erster Adressat der Rede von Julian Nida-Rümelin

Zeit für einen pragmatischen Utopismus

Nida-Rümelin erinnerte an Platon und seine Vision, dem Einzelnen die Verantwortung in der Gesellschaft in die Hand zu geben. „Schuld ist der Wählende, die Götter sind schuldlos“, so Nida-Rümelin mit Verweis auf Platon. Platon habe ja nicht an den historischen Fortschritt geglaubt, aber eine entscheidende Setzung vorgenommen, die sich heute noch in Grundgesetzen demokratischer Staaten fände. „Die Würde des Einzelnen ist unantastbar – dieser Satz ist nicht selbstverständlich, er ist eine Setzung und im Kern eine Utopie“, so der Philosoph. In diesem Kern stecke das, was er einen neuen „pragmatischen Utopismus“ nennen wolle, der auf kollektiven Fortschritt setze.

Der Handlungsspielraum von Einzelstaaten, die man ja nicht mal mehr als Nationalstaaten bezeichnen könne („Großbritannien hat ja gleich vier Fußballnationalmannschaften – was also soll das für eine ‚Nation‘ sein?“), minimiere sich und müsse sich auf ein kollektives Zusammenspiel einstellen. „Wer an etwas anderes glaubt, irrt leider“, so Nida-Rümelin.

In einer Demokratie beweise sich gerade dieser Respekt vor dem Einzelnen und die Bewahrung der Vielfalt: „Demokratie ist nicht die Diktatur der Mehrheit.“ Für die Gegenwart brauche es eine „kosmopolitische Perspektive“. Die Europäische Union wäre für diese gebaut. Und, so könnte man als Botschaft mitnehmen, auch die Salzburger Festspiele hätten diese ja in ihrem Gründungscode mit eingeschrieben.

Karoline Edtstadler und Ursula von der Leyen
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Ursula von der Leyen und Karoline Edtstadler, die am Sonntag auch Bundeskanzler Kurz vertrat, in der ersten Reihe bei der Eröffnung

Van der Bellen kontert Nida-Rümelin

Bundespräsident Van der Bellen replizierte in seiner Rede als „Ökonom“ auf den Philosophen Nida-Rümelin: „Ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht mehr zwischen den Betriebs- und den Volkswirten unterscheiden sollten, ich bin ja Volkswirt.“ Van der Bellen stieß aber auch in die Kerbe, dass man viel zu viele Systeme in Zeiten der Normalität gegeneinander ausspiele – das gefalle ihm gar nicht.

Und wenn im „Don Giovanni“ die Rede sei, dass man am Ende zur Normalität zurückkehre, dann frage er sich mit Blick auf die Lage nach der Pandemie: „Zu welcher Normalität? Ich sehe es nicht als Normalität, Wirtschaft, Soziales und Klimakrise gegeneinander auszuspielen.“ Und mit einer Replik auf einen Nichtanwesenden: Ohne fundamentales Gegensteuern werde man die Klimakrise nicht in den Griff bekommen.

Die Rede von Alexander Van der Bellen

„Das Zukünftige als Vision in den Blick nehmen“

„Kunst hat die Aufgabe, das Vergangene als Mythos zu lesen – und das Zukünftige als Vision in den Blick zu nehmen“ – so skizzierte Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) in seiner Rede die Aufgabe der Festspiele. Er könne in seiner Rede nur Fragen stellen, auch, ob man aus den Erfahrungen der letzten Monate etwas lernen könne. Antwortoptionen könne die Kunst entwickeln. An einen Abschied von Rabl-Stadler, die eine große bewegende Rede gehalten und sich in Bestform gezeigt hatte, an der Spitze des Festspielpräsidiums wollte der Landeshauptmann noch nicht glauben. Das Publikum war in dieser Hinsicht ganz auf seiner Seite.

Die Rede von Wilfried Haslauer

Kogler lobt Rolle der Festspiele

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) gratulierte und dankte in seiner Rede dem Präsidium der Salzburger Festspiele, vor allem der Präsidentin, für den Mut, mit dem sie sich gegen die Zumutungen der Pandemie gestellt habe. Die Festspiele stünden für ihn nicht nur für die Notwendigkeit von Begegnung und Diskurs über die Kunst: „Letztlich stehen sie auch für den Respekt für die Vielfalt in unserer Gesellschaft.“ Man wüsste gerade jetzt umso mehr, „dass nichts selbstverständlich im Leben“ sei.