Szenenbild Figuren im Dunkel wilde Kreise auf der Bühne
SF / Monika Rittershaus
„Richard the Kid & the King“

Blutrausch im Bällebad

Wie waren eigentlich die großen Monster Shakespeares als Kind? Die Regisseurin Karin Henkel stellt sich bei den Salzburger Festspielen dieser Frage anhand von Shakespeares vielleicht größtem Unhold: dem „Krüppel“ Richard III. Und schickt eine großartige Lina Beckmann als Richard durch dessen Kindheit. Im Hause York wird im Bällebad nicht gespielt, sondern frühzeitig das Meucheln, Morden und Verstellen gelehrt.

Es sind zwei Nachtstücke, die den künstlerischen Auftakt der Salzburger Festspiele in diesem Jahr bestimmen. Der „Don Giovanni“, der ja nie bei „Licht“ gesetzt ist, fügt sich in diese Anordnung, und auch Karin Henkels Erweiterung von Shakespeares „Richard III.“ zum Remix-Stück „Richard the Kid & the King“ vertieft die Tradition, die Gestalt des Menschen aus der Dunkelseite des Lebens zu schälen.

„Ich bin mit den Füßen voran, weil ich es besonders eilig hatte“, hört man aus dem Off, als Lina Beckmann als Kind-Richard die Bühne betritt. Beckmann verdeckt dabei nicht die erwachsene Frau, denn Henkel liebt die Besetzung von Rollen gegen die klassischen Geschlechter- oder Alterszuordnungen. All das passiert auch, damit sich das Publikum schnell auf das Spiel und alle Entfremdungen, die so ein Spiel und das Rollen-Einnehmen verlangt, einstellt.

Euch gefällt das nicht? „So fuck off!“

Ohnedies wird sehr rasch klar, wie das wirksame Theater der Gegenwart funktioniert: Eyecatcher in Form von schwebenden Bällen auf der Bühne, Rauch, gutes Licht – und eine Bühne als schräge Scheibe. Das hat man in verschiedenen theatralen Versuchsanordnungen gesehen, eher in Schwarz-Weiß bei Ulrich Rasches „Persern“. Und weit braucht man beim Assoziieren nicht zu schweifen, um die Ebene zwischen Mutterleib und Machtzirkel abstecken zu können.

Schauspieler auf Kreisrunder Bühne
SF / Monika Rittershaus
Die Welt ist eine Scheibe, darüber das Bällebad. Drei Schauspielerinnen und ein Schauspieler tragen neben den „Lackaffen“ einen Abend von vier Stunden. In der Mitte der gekrönte „Krüppel“, Richard III.

Überhaupt ist es Henkel nicht um komplexe, aber wirksame Metaphern bestellt – Angst vor Plattheit plagen sie nicht, denn das ganze Setting wird von der Hintergrundmusik getragen, die ein bisschen wie ein Rammstein-Konzert funktioniert: Mal geht es um „Atmo“, mal um rasche Beats. Wer das nicht mag, dem schallt von der Bühne ein deutlich hörbares „So fuck off“ der ebenso furiosen Kate Strong entgegen.

Hineinschauen in die Machtrauschwelt

Henkel will hinschauen, wie Menschen in eine Welt gestoßen werden, in der es ja weder Kindheit gibt noch so etwas wie Unschuld. Das Königsamt, es ereilt einen fast im Normalfall vor der Geschlechtsreife. Kristof Van Boven, als sensibler Heinrich VI. in Frauenkleidern und mit sehr blutigem Höschen auf der Bühne unterwegs, wird den frühen Verlust von Kindheit und den Zwang zur Machthandlung, die immer auch die Grenzüberschreitung einschließt, thematisieren. Er sei zwölf, seine Gattin „deutlich älter als er, nämlich dreinzehn-einhalb“, tönt er. Und wünscht sich eine Systemumkehr gegen das ewige Morden.

Wenn man nichts kennt außer Königsdramen

Und während Heinrich VI. aus der Machtnummer aussteigen will, dreht seine unsichtbare Frau im Hintergrund, Königin Margeretha di Napoli, die Spirale der Gewalt weiter. Richards Vater und dessen Lieblingssohn Ronnie werden gemeuchelt. Die Köpfe steckt man in Plastiksäcke, und der kleine Richard schmeißt sie selbst mit über die Bühne. Schnell lernt das Kind aus York: Wer nicht rächt, der nicht gewinnt.

Es könnte ein Machtspiel ums Überleben sein, das hier von im Wesentlichen drei Schauspielerinnen und einem Schauspieler dargeboten wird. Es könnte aber auch heißen, dass die Kinder, die in diese Welt geboren werden, nichts anderes kennen, als mit allen Mitteln an die Macht zu kommen. Ein Schelm, der hier an Bezüge zur Politik denkt – und es soll ja tatsächlich Politiker geben, die seit ihrer Jugend nichts anderes als Politik in ihrem Werdegang kennengelernt haben.

Hinweis:

„Richard the Kid & the King“ ist eine Koproduktion mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Auf der Perner-Insel sind bis 5. August noch sieben Vorstellungen zu sehen. Und Karten sind noch zu haben.

Der Abend der Lina Beckmann

Richard, das verunstaltete Kind, lernt als Außenseiter schnell – und es schaut vom Rand genauer hin. Beckmann inkorporiert ihre Rolle förmlich, und das schließt die Reflexion über das Handwerk der Schauspielerin mit ein. Sie kann Drama, Beschleunigung, Zirkus, Grimasse – und sie beherrscht die Verstellung so gut, dass sie am liebsten selber darauf hereinfiele. Als sie etwa um die Hand der Lady Anne, also der Witwe des ebenfalls durch die Hand Richards gefallenen Edward anhält, beherrscht sie das Handwerk der emotionalen Verstellung derart, dass selbst einem Don Giovanni nach dem Mord am Vater der Donna Anna schwindelig würde.

Immer tiefer verstrickt sich Richard im Machtspiel – und immer konsequenter schaltet er seine Gegner aus. Nur seine eigene Mutter kann er nie täuschen. Als Richard sich selbst und seiner Emotionalität auf den Leim gehen will, lacht ihn die Mutter hämisch aus (wieder ist es hier Kate Strong, die flugs die Rollen gewechselt hat). Für Mitgefühl ist nirgendwo Platz, auch wenn sich Richard manchmal wie ein Kind nach Empathie zu sehnen scheint, diese aber doch nur Mimikry bleibt.

„Ich muss mich mal ausruhen“, extemporiert Beckmann an diesem Abend zwischenzeitlich – und erhält für ihre Darbietung einen mehr als verdienten Zwischenapplaus. Überhaupt wachsen alle Schauspielerinnen, Kate Strong und Bettina Stucky, ebenso wie Kristof Van Boven über sich hinaus. In dieser Tragödie, die durchaus eine tragedia giocosa sein könnte, wird mit verschiedenen Textgrundlagen zweier Shakespeare-Stücke ebenso gearbeitet wie mit Texten von Luc Perceval und Tom Lanoye.

Lina Beckmann als Richard
SF / Monika Rittershaus
Kristof Van Boven als Heinrich VI. und Lina Beckmann als kindlicher Richard

Der Sinn der Gemeinschaft

Vor allem brechen in diesem Theater Satire und Selbstreflexion mit in die Tragödie hinein. Das war zwar schon bei Shakespeare so angelegt. Umso mehr empfiehlt sich diese Verstärkung als Echokammer für unsere Gegenwart. Wie könnten sich Personen entwickeln, die in eine Welt hineingeboren würden, die den Respekt für den anderen kennt? Richard bleibt nicht um sonst einzig ein Pferd, für das er auch ein Königreich geben würde.

Ohne Sinn für die Gemeinschaft und die Anerkennung des anderen macht das Recht auf Freiheit des Einzelnen keinen Sinn – so könnte man etwa die Eröffnungsrede von Julian Nida-Rümelin zusammenfassen. Ohne eine Vorstellung von Gemeinsamkeit kann sich aber auch das Individuum nicht bilden. Shakespeares Richard ist ja weniger ein physischer „Krüppel“ denn ein in der Herzgegend grundgestrafter Mensch. „Stich zu, grab die Seele frei“, schreit Richard der Lady Anne zu. Es ist Verstellung und Hilferuf zugleich. Und es ist eine Form von Theater, der sich niemand entziehen kann. Die Begeisterung bildet sich hier zu Recht.